8 Monate Reis…

Im Sommer 2001 mach­ten mein Freund und ich den lang geheg­ten Traum war, und gingen nach Japan. Dort ange­kom­men, hatten wir in Anleh­nung an Otto gleich drei Pro­bleme: Kein Geld, keine Arbeit und kein Visum. Jeden­falls kein Arbeitsvisum.

Ich lernte schnell, dass man ohne Visum keine Arbeit bekam und ohne Arbeit kein Visum! Glück­li­cher­weise konnte ich mir anfangs durch pri­va­ten Deutsch­un­ter­richt ein paar Yen ver­die­nen und nach zwei Mona­ten hatte ich dann doch einen rich­ti­gen Job: ein Prak­ti­kum, geför­dert durch ein DAAD-Sti­pen­dium (mit rich­ti­gem Visum!).

Geld hat man im Land der auf­ge­hen­den Sonne auch ver­dammt nötig: Denn es ist schwei­ne­teuer: Ein Kino­be­such kostet 15 EUR, eine 3‑Monatskarte nach Down­town Tokio 500 EUR.

Neben Geld ist Geduld für das Über­le­ben in Tokio unerlässlich.

Ich erin­nere mich dabei an die end­lo­sen Bahn­fahr­ten im Winter. Nach­dem man einige Minu­ten brav am vor­ge­ge­be­nen Mar­kie­rungs­punkt des Bahn­steigs in 2er-Reihen (wie in der Grund­schule!) auf den Zug gewar­tet hat, kommt sel­bi­ger und man glaubt, ein tür­ki­sches Dampf­bad auf Rädern vor sich zu haben. Die Feuch­tig­keit tropft an den Schei­ben runter. Erwar­tungs­voll blickt man auf die ein­ge­keilte Menge, wenn sich die Tür öffnet — “Die wollen sicher­lich alle hier aus­stei­gen”. Doch dem ist meis­tens nicht so. Man schafft es nur hinein, wenn man keine Ver­wand­ten kennt oder auf den Herren mit den weißen Hand­schu­hen wartet, der einem höf­lich den Arm ver­biegt, damit die Türen zuge­hen. Ca. 4.000 Men­schen in einem Waggon, die Hei­zung auf Hoch­tou­ren, aber keiner macht das Fens­ter auf! Sub­tro­pi­sche Tem­pe­ra­tu­ren, Sauer­stoff­ge­halt so hoch wie der durch­schnitt­li­che IQ eines Leb­ku­chens, aber die Japa­ner schwit­zen schwei­gend, tragen ihre Anzüge und Pelz­män­tel mit Fas­sung und tupfen sich ver­schämt den Schweiß mit klei­nen Hand­tü­chern ab. Denn: Man könnte sich erkäl­ten und nicht mehr arbeits­fä­hig sein… nun ja.

Nach kurzer Gewöh­nungs­phase hatte ich jedoch die japa­ni­sche Tech­nik des “Jederzeit-und-an-jedem-Ort”-Schlafens per­fek­tio­niert. Zuletzt konnte ich sogar im Stehen (umfal­len geht ja nicht) ein Nicker­chen ein­le­gen und die täg­li­che Sau­na­fahrt ohne blei­bende Schä­den überstehen.

Ich konnte mich auch daran gewöh­nen, dass an Regen­ta­gen vor jedem Kauf­haus min­des­tens drei dienst­bare Geis­ter stehen, deren ein­zige Auf­gabe es ist, die Regen­schirme der Kund­schaft am Ein­gang in “Anti­tropf­kon­dome” zu fum­meln. Diese werden bei Ver­las­sen weg­ge­wor­fen und, wie eigent­lich das meiste in Japan, nicht wieder verwendet.

Andere Dinge hin­ge­gen sind mir bis heute uner­klär­lich geblie­ben: So gibt es z.B. — mit Aus­nahme von Kauf­häu­sern und Zügen — keine Hei­zun­gen! Im Winter (immer­hin auch nur um die 0 Grad) ent­ste­hen daher mor­gens im Bad immer nette Wölk­chen vor dem Mund, Milch kann man beden­ken­los tage­lang auf dem Küchen­tisch stehen lassen.

Über­haupt ist Japan das Land der Gegen­sätze. Nicht selten sieht man noch japa­ni­sche Damen in tra­di­tio­nel­len Kimo­nos in den Stra­ßen, aber jede öffent­li­che Tele­fon­zelle hat eine ISDN-Dose, in die man sein Laptop ein­stöp­seln kann, wenn man sich nicht eh gerade in einem W‑LAN-Gebiet befindet. 
Japan ist bis­wei­len auch recht ver­klemmt (es ertönt Bach­ge­plät­scher mit Vogel­ge­zwit­scher, wenn man eine Toi­lette benutzt), dann wieder scho­ckie­rend unmo­ra­lisch — Schul­mäd­chen pro­sti­tu­ie­ren sich offen, um sich die obli­ga­to­ri­sche Louis-Vuit­ton-Tasche kaufen zu können. Vom all­täg­li­chen Wahn­sinn abge­se­hen haben wir aber auch viel Schö­nes erlebt. Zwei­mal wurden wir von Gast­fa­mi­lien aufs herz­lichste auf­ge­nom­men und wie Fami­li­en­mit­glie­der behan­delt, obwohl sie uns nur von Fotos kann­ten. Freunde und Bekannte haben uns die schöns­ten Ecken des Landes gezeigt und dabei mehr als einmal eingeladen!

Auch wenn die Zeit in Tokio oft anstren­gend war, ver­misse ich — wieder zurück in Berlin — vieles. Sei es die japa­ni­sche Küche, die Streif­züge durch die Elek­tronik­kauf­häu­ser oder die Ansage im Super­markt, dass es jetzt anfängt zu regnen und man doch bitte daran denken möge, beim Hin­aus­ge­hen seinen Regen­schirm aufzuspannen…

Der Lärm, die Enge in Tokio und die Har­mo­nie­sucht der Japa­ner haben mich manch­mal dem Ner­ven­zu­sam­men­bruch nahe gebracht. Aber das alles hat mir auch gezeigt, dass es mög­lich ist, seine eige­nen Bedürf­nisse mehr in den Hin­ter­grund zu stel­len und das Mit­ein­an­der höher zu bewer­ten. Ich habe auch gelernt, dass es gele­gent­lich besser ist, sich nicht, wie hier­zu­lande ver­brei­tet, vor­ran­gig mit Kritik zu pro­fi­lie­ren, son­dern die posi­ti­ven Aspekte einer Sache wahr­zu­neh­men und herauszustellen.

Und an Tagen, an denen ich diese Weis­hei­ten nicht beher­zi­gen konnte, dachte ich ein­fach an den Hin­weis, der einst an eini­gen Bahn­hö­fen zu lesen war: “Liebe Lebens­müde, bitte denken Sie an Ihre Mit­men­schen und sprin­gen Sie nicht zur Hauptverkehrszeit.”