Enthindern statt verhindern

Viele wuss­ten es sicher noch nicht, seit eini­ger Zeit ver­kün­den es Fern­seh-Spots: Wir befin­den uns im “Euro­päi­schen Jahr der Men­schen mit Behinderungen”.

Diese Men­schen gibt es auch an Ber­li­ner Hoch­schu­len, und das Jahr ist ein guter Anlass, mal einen Blick auf die Situa­tion dieser Kom­mi­li­to­nen zu werfen. Nach der 16. Sozi­al­erhe­bung im Auf­trag des Deut­schen Stu­den­ten­wer­kes aus dem Jahr 2000 sind 15 % der deut­schen Stu­die­ren­den gesund­heit­lich geschä­digt, davon 13 % chro­nisch krank und 2 % behin­dert. Wie viele davon in Berlin stu­die­ren, kann man nicht genau sagen, denn schließ­lich muss nie­mand seine Behin­de­rung oder Krank­heit “anmel­den”. Es muss aber auch nie­mand seine Pro­bleme ver­heim­li­chen und denken, er müsste mit seiner Krank­heit allein fertig werden und den­sel­ben Anfor­de­run­gen genü­gen, wie die übri­gen Stu­die­ren­den. Denn ins­ge­samt gibt es in Berlin ein rela­tiv umfang­rei­ches Bera­tungs­an­ge­bot sowie Finan­zie­rungs- und sons­tige Hilfen. Nicht zuletzt for­dert das Ber­li­ner Hoch­schul­ge­setz, dass jedem Stu­den­ten und jeder Stu­den­tin mit einer Behin­de­rung die erfor­der­li­che Hilfe zur Inte­gra­tion bereit­ge­stellt wird. So bietet das Stu­den­ten­werk eine beson­dere Bera­tung für behin­derte Stu­die­rende an und an jeder Hoch­schule gibt es eine(n) Behindertenbeauftragte(n), an den/die sich der Stu­dent wegen ganz spe­zi­el­ler, zum Bei­spiel bau­li­cher, Pro­bleme in seiner Hoch­schule wenden kann. 

“Behin­dert ist man nicht, behin­dert wird man.”

Wer sich von einem Stu­den­ten besser ver­stan­den fühlt, kann an FU und HU auch zu den Bera­tungs­stel­len des AStA bzw. des Ref­Rats gehen. Die stu­den­ti­schen Bera­ter dort stehen in keinem Ange­stell­ten­ver­hält­nis zur Uni­ver­si­tät und haben daher natür­lich andere Mög­lich­kei­ten, Initia­ti­ven auch zum Pro­test zu ergrei­fen. Die Bera­tung der HU nennt sich bezeich­nend “Ent­hin­de­rungs­be­ra­tung” — denn ihre Mei­nung ist: behin­dert ist man nicht, behin­dert wird man. Von diesem fast phi­lo­so­phi­schen Ansatz zu ganz all­täg­li­chen Fragen: Wie findet sich ein Blin­der auf dem Campus zurecht, wie liest er Fach­bü­cher? Er braucht einen Stu­di­en­hel­fer. Wie kann ein Hör­be­hin­der­ter einer Vor­le­sung folgen? Viel­leicht durch eine Mikro­port­an­lage, welche die Spra­che direkt ins Ohr über­trägt. Und wenn er gehör­los ist? Dann braucht er einen Gebär­den­dol­met­scher. Wie kommt ein Roll­stuhl­fah­rer zum Semi­nar, wenn die BVG nicht mitspielt?

Mit einem roll­stuhl­ge­rech­ten Auto. Dies alles ist zu bekom­men bzw. finan­zier­bar, denn das Ber­li­ner Hoch­schul­ge­setz legt fest, dass die Hoch­schu­len in allen Berei­chen die erfor­der­li­chen Maß­nah­men zur Inte­gra­tion, für die Durch­füh­rung des Stu­di­ums und der Prü­fung tref­fen müssen. Diese Pflicht haben die Hoch­schu­len quasi an das Ber­li­ner Stu­den­ten­werk abge­ge­ben, das zen­tral einen Finanz­topf ver­wal­tet, aus dem Hilfe zum Stu­dium bezahlt werden kann. Dane­ben ver­leiht das Stu­den­ten­werk tech­ni­sche Hilfs­mit­tel, das Sozi­al­amt gewährt in bestimm­ten Fällen Hilfe zum Lebens­un­ter­halt. Natür­lich muss man von all diesen Mög­lich­kei­ten erst einmal wissen, und dann erwar­tet den Stu­die­ren­den in vielen Fällen noch der geliebte Papier­krieg. Es hilft also nur eines: fragen, fragen, fragen und nicht auf­ge­ben. Dann sind da noch die chro­nisch kran­ken Stu­die­ren­den. Die fühlen sich oft nicht “behin­dert” und scheuen sich, Bera­tung in Anspruch zu nehmen. Doch wenn jemand drei­mal in der Woche zur Dia­lyse muss, braucht er eben länger für sein Stu­dium als andere Stu­den­ten — und muss mög­li­che Sank­tio­nen nicht hin­neh­men. Er muss jedoch mit seinem Dozen­ten spre­chen, denn schließ­lich sieht ihm der seine Krank­heit nicht an. Die Sozi­al­erhe­bung des Stu­den­ten­wer­kes berich­tet aber auch, dass es bei der Gruppe der behin­der­ten und chro­nisch kran­ken Stu­die­ren­den oft zu einem Wech­sel des Stu­di­en­gangs kommt und mehr als die Hälfte ihr Stu­dium unter­bre­chen. Es sind eben nicht alle Pro­bleme so ein­fach zu lösen. So sind zum Bei­spiel an der FU zwar die grö­ße­ren Gebäude mit einem Roll­stuhl zugäng­lich, was übri­gens nicht mehr “behin­der­ten­ge­recht”, son­dern “bar­rie­re­frei” genannt wird. Doch viele der klei­ne­ren Insti­tute befin­den sich in alten Villen, die zwar mit­un­ter hübsch, aber eben alt­mo­disch sind. Und ver­ständ­li­cher­weise möchte nicht jeder Roll­stuhl­fah­rer, dass sei­net­we­gen ganze Vor­le­sun­gen umge­legt werden, auch wenn er theo­re­tisch einen Anspruch darauf hätte. Gar für eine Rampe oder eine grö­ßere Toi­lette vor Gericht zu klagen, schreckt wohl noch mehr Behin­derte ab. Georg Clas­sen, der Behin­der­ten­be­auf­tragte der FU, sieht in dem Fall jedoch eine Ver­bes­se­rung dadurch kommen, dass sich die FU lang­fris­tig von den Villen tren­nen und den Campus zen­tra­li­sie­ren will. 

Eine echte Hürde ist jedoch: die Uni­ver­si­tät ist nicht über einen bar­rie­re­freien U‑Bahnhof zu errei­chen. Ein Aufzug am Bahn­hof Dahlem Dorf soll aller­dings bis Ende 2003 fertig gestellt sein. Ein wei­te­res Pro­blem waren lange die medi­zi­ni­schen Insti­tute, die mit Beru­fung auf die Appro­ba­ti­ons­ord­nung für Ärzte keine kör­per­be­hin­der­ten Stu­die­ren­den zulas­sen woll­ten. Doch was spricht gegen einen Inter­nis­ten im Roll­stuhl? Inzwi­schen stu­die­ren schon Geh­be­hin­derte erfolg­reich an der FU Medi­zin. Eine immer grö­ßere Rolle spielt im Stu­dium das Inter­net. Die zen­tral ver­wal­te­ten Web­sites der FU rich­ten sich nach den Bedürf­nis­sen seh­be­hin­der­ter Stu­die­ren­der, doch auf insti­tuts- oder dozen­ten­ei­ge­nen Seiten herrscht oft noch das Chaos.

Soft­ware für Blinde kann zwar Text in Spra­che umset­zen, doch Bilder und Gra­fi­ken, die nicht mit Text unter­legt sind, brin­gen erheb­li­che Pro­bleme. Bei Prü­fun­gen ist es zwar schon Stan­dard, dass Behin­derte und chro­nisch Kranke einen Nach­teils­aus­gleich bekom­men, zum Bei­spiel durch eine Zeit­ver­län­ge­rung. Noch umstrit­ten ist aber, wie zum Bei­spiel mit Leg­asthe­ni­kern zu ver­fah­ren ist. Schwie­rig ist in diesen Fällen der Nach­weis der Krank­heit. Doch Georg Clas­sen will sich dafür ein­set­zen, dass in Zukunft auch diesen Kran­ken ein Nach­teils­aus­gleich gewährt wird. 

Es ist gar nicht so schwer, zu “ent­hin­dern”. Jeder Stu­dent kann darauf achten, wo er behin­der­ten Kom­mi­li­to­nen helfen kann und auf der ande­ren Seite über­le­gen, wo eigent­lich Gut­ge­mein­tes viel­leicht ent­mün­di­gend wirkt. Jeder Dozent kann helfen, wenn er zum Bei­spiel seine Vor­le­sun­gen auch als Skripte zur Ver­fü­gung und seine Folien ins Inter­net stellt. Und jeder behin­derte oder chro­nisch kranke Stu­dent sollte den Mut haben, mit seinem Dozen­ten über seine Krank­heit zu spre­chen und die Bera­tung zu nutzen. 

Viele Behin­derte wün­schen sich schließ­lich ein­fach eine grö­ßere Selbst­ver­ständ­lich­keit im Umgang mit ihren Mitmenschen.