Es ist nicht alles schlecht im Prenzlauer Berg

Es ist nicht alles schlecht im Prenz­lauer Berg. Sicher, das Sze­nevolk ist schlimm. Auf den U‑Bahnhöfen der gesam­ten Stadt trägt es seine Mode wie auf einem Lauf­steg spa­zie­ren, die Fri­su­ren sehen grund­sätz­lich unge­kämmt und doch so gewollt aus, in der Plage der gerade auf­kei­men­den Cof­fee­shop-Szene dürfen natür­lich auch sie nicht fehlen.

Man erkennt sofort, wes‚ Bezirks Kind sie sind. Und wenn man es trotz ein­deu­ti­ger Hin­weise nicht so genau zu sagen vermag, dann weiß man trotz­dem noch eines: die sind aus dem Osten der Stadt. Wo es Trams gibt, Spät­kauf­lä­den, Wla­di­mir Kami­ners Schön­hau­ser Allee und sze­nige Fri­seure, die, welch Ironie, “Not­auf­nahme” heißen. Natür­lich darf es auch nicht fehlen an Fach­ge­schäf­ten für das ober­fläch­li­che Eli­xier dieses Quar­tiers: “Anzieh­sa­chen” trägt man hier, idea­ler­weise ist man aus der Pro­vinz zuge­zo­gen und darf hier, in der großen Stadt, im gehyp­ten Vier­tel end­lich Szene-Ken oder Berlin-Barbie sein. Kla­mot­ten­lä­den gibt es zuhauf, über­haupt Läden, gerne welche, in denen zwei Expo­nate zu besich­ti­gen sind, wenn man sich denn hin­ein­traut, und deren Mieten so unglaub­lich hor­rend sind.

Es ist nicht alles schlecht 

Nun gut, es ist nicht alles schlecht in Prenz­lauer Berg — dem Mythos. Künst­ler- und Stu­den­ten­vier­tel, junge Fami­lien, junge “Krea­tive”, Par­ty­volk. Das ist Gott sei Dank nicht alles. Denn unab­hän­gig davon gibt es in diesem Fleck­chen Berlin wun­der­schöne Ecken und Plätze von ganz eige­nem Flair, so dass man sich nicht abschre­cken lassen sollte von den knall­bun­ten Heinis. Im übri­gen hat es seinen Reiz, an einem Som­mer­sonn­tag zum Floh­markt nach Mitte zu laufen und sich zu beiden Seiten der Kas­ta­ni­en­al­lee die hippe Früh­stücks­ma­fia in eini­gen Cafés anzu­se­hen. Aber Vor­sicht — nicht jedes Café ist gleich in. Mein ehe­ma­li­ges Lieb­lings-Café ist es jetzt schon länger und trotz­dem habe ich mich hin­ge­wagt. Doch in letz­ter Zeit hat es noch mehr an abso­lu­ter Sze­ne­taug­lich­keit zuge­nom­men, denn meine geliebte heiße Scho­ko­lade nach Casa­no­vas Geheim­re­zept hat nicht nur an Preis zuge­legt, son­dern auch an Image. Der Kakao kommt in einem Cai­pi­rinha-Glas an den Tisch. Die heiße Scho­ko­lade — die kleine Schwes­ter des schwer ange­sag­ten Latte Mac­chiato? Soweit kann der Hype gehen und des­we­gen sind die wirk­lich guten Zeiten in Prenz­lauer Berg auch vorbei. Nichts­des­to­trotz hat er, abge­se­hen von der Szene, durch­aus Char­man­tes zu bieten, denn geplant war hier, Gott sei Dank, alles einmal anders.

Der “Wind­müh­len­berg”

Die Geschichte des Bezirks beginnt Mitte des 18. Jahr­hun­derts, als Fried­rich II. beschloss, auf jenem Gelände vor den Toren Ber­lins Wind­müh­len bauen zu lassen wo vorher Acker­flä­chen, Gärt­ne­reien, Baum­schu­len und Klein­wild­ge­hege das Bild prägten. 

Gut hun­dert Jahre später über­nahm James Hobrecht, Haus- und Hof­ar­chi­tekt des Vier­tels, die Neu­ge­stal­tung des “Wind­müh­len­bergs” als Quar­tier für Arbei­ter und Ange­stellte. Als der Bezirk 1920 seinen heu­ti­gen Namen erhielt, lebten hier drei­mal mehr Men­schen als heute. Umso wich­ti­ger wurde die Erhal­tung der Grün­flä­chen zwi­schen Häu­ser­schluch­ten und Hinter-Hinter-Hin­ter­hö­fen. Heute gibt es hier rund 200 Hektar Grün, der Dank geht an den Bezirk, der neben Schutz­maß­nah­men auch Neu­an­la­gen för­dert. So wurden seit 1985 20.000 Bäume neu gepflanzt und jähr­lich kommen etwa 300 dazu. Sie machen auf ver­wil­der­ten Fried­hö­fen, auf Stadt­plät­zen und in Parks gemein­same Sache mit Spiel­plät­zen, Brun­nen und Wiesen, die diese Erho­lungs­oa­sen aus­zeich­nen. Im Früh­jahr und Sommer sind diese grünen Winkel licht­durch­flu­tet, Wochen‑,Öko- und Floh­märkte lassen sich hier gerne nieder, zwi­schen ehe­ma­li­gen Pracht­stra­ßen mit noch erhal­te­nen , oft hun­dert Jahre alten Alleen. In der Knaack­straße, unweit der Kul­tur­braue­rei, ist gerade erst wieder ein alter jüdi­scher Fried­hof zu einem halb­öf­fent­li­chen Spa­zier­weg her­ge­rich­tet worden, dem soge­nannte “Juden­gang”.

“Helmi” und “Kolle”

Wer nicht von der Dar­rei­chungs­form des Erfri­schungs­ge­trän­kes ent­täuscht werden will, der macht es sich zu solch ver­lo­cken­der Jah­res­zeit in einem der fünf großen Parks gemüt­lich, die diesem Vier­tel Schat­ten, Blät­ter­ra­scheln, Kin­der­ge­schrei und Som­mer­freu­den spen­den: der Ein­stein-Park, erst 1994 um einen Spiel­platz herum errich­tet, der Volks­park Prenz­lauer Berg zwi­schen Kni­pro­de­straße und Lands­ber­ger Allee und der Anton-Saef­kow-Park sind beide auf Schutt­kip­pen ent­stan­den, der Ernst-Thäl­mann-Park begrünt seit den acht­zi­ger Jahren enge Wohn­be­bau­ung. Und natür­lich der berühmt-berüch­tigte Mau­er­park, benannt nach dem ehe­ma­li­gen Mau­er­strei­fen, auf dem er errich­tet ist. Die Som­mer­abende ver­bringt man hier bei ver­bo­te­nen Feuern, umge­ben von Tromm­lern und ande­ren Musi­kan­ten auf den Schau­keln oder auf der Anhöhe. Der Blick schweift über die sechs­stö­cki­gen Alt­bau­ten, die fernen Lich­ter der Stadt und den Fern­seh­turm. Diesen kann man von fast jedem Punkt aus in Prenz­lauer Berg sehen und er gibt einem ein Gefühl von Zuhause. Nach dem Hit des letzen Som­mers sollen auch die innig gelieb­ten und hart umstrit­te­nen klei­nen Stadt­plätze des Vier­tels nicht zu kurz kommen. Die stol­zes­ten Pren­zel­ber­ger legen sich mit jedem an, der einem ande­ren klei­nen grünen Platz den Vorzug gibt vor ihrem eige­nen Favo­ri­ten. Der Arns­wal­der Platz mit seinen “Frucht­bar­keits­brun­nen” im soge­nann­ten Böt­zow­vier­tel, benannt nach einer Fami­lie mit Braue­rei­tra­di­tion und dem Hang zu großen Bier­gär­ten, kon­kur­riert schon mal mit dem Humann- oder dem Arn­im­platz. Rechts und links der oberen Dan­zi­ger Straße strei­tet man sich gern um “Helmi” und “Kolle”, also zum einen um den Helm­holtz­platz, dessen Geschichte wie­derum eine kleine Geschichte wert ist.

Dieser Platz ent­stand Ende des 19. Jahr­hun­derts auf dem Gelände einer Zie­ge­lei, die nach Bank­rott zer­fiel und deren Ruinen mit Erde auf­ge­schüt­tet und bepflanzt wurden. Eine übli­che Praxis in P‚Berg, wie wir gese­hen haben. Heute steht der unter­ir­di­sche Ring­ofen der eins­ti­gen Zie­gel­bren­ne­rei unter Boden­denk­mal­schutz. Ande­ren ist der Koll­witz­platz liebs­tes Plätz­chen im Bezirk. Käthe Koll­witz zu Ehren ziert die Mitte des Plat­zes heute eine bron­zene Plas­tik, den Kin­dern ein belieb­tes Klet­ter­ob­jekt. Hier geht der Hype mit enor­men Mieten und Ver­kös­ti­gungs­prei­sen einher.

Der Hype hat aus­nahms­weise mal Recht

Dass der Hype aus­nahms­weise mal Recht hat, sieht man in diesem Vier­tel näm­lich an der Kul­tur­Braue­rei. Die ehe­ma­lige Schult­heiss-Braue­rei wurde 1967 still­ge­legt und seit­dem haben sich hier Läden, Thea­ter, ein Licht­spiel­haus, ein Museum, Agen­tu­ren und Clubs nie­der­ge­las­sen. Die auf­wän­dige Sanie­rung vor über drei Jahren hat ihrem Indus­trie-Charme keinen Abbruch getan. Vom ehe­ma­li­gem Pfer­de­bahn­hof dage­gen, dem heu­ti­gen Cine­maxx-Colos­seum, ist leider nicht mehr viel übrig geblie­ben. Hier hat die neon­röh­ren-erstrahlte Fratze der Moder­ni­sie­rung ihr geschmack­lo­ses Haupt erho­ben. Er befin­det sich in guter Gesell­schaft mit dem schräg gegen­über­lie­gen­den Kon­sum­tem­pel eines großen Ein­kaufs­zen­trums. Läuft man die Schön­hau­ser Allee in die andere Rich­tung, begibt man sich nach Mitte. Nimmt man die Kas­ta­ni­en­al­lee, säumen Szene-Cafés, Second-Hand-Läden und der Prater den Weg. Diese tra­di­ti­ons­rei­che Bier­gar­ten ist der älteste Ber­lins und ihm wird ein eher unkon­ven­tio­nel­les Ambi­ente nachgesagt. 

Nimmt man auf seinen Aus­flü­gen die Dan­zi­ger Straße kommt man flugs nach Fried­richs­hain. Beide Quar­tiere sind grün, werden abwech­seln gehypt und wieder für tot erklärt und liegen im Osten der Stadt. Aber natür­lich findet jeder nur den Bezirk cool, in den er gezo­gen ist, da sind die Ber­li­ner eigen. Kommt man aus all diesen Rich­tun­gen nach Hause, offen­bart sich die wahre Schön­heit des Vier­tels. Trotz aller Sehens­wür­dig­kei­ten, im wahrs­ten Sinne des Wortes, trotz der Kir­chen, der Fas­sa­den, der Brun­nen und der Parks und Plätze in diesem Fle­cken Ber­lins, ist die schönste der Blick aus meinem Fens­ter: Ein alter Schorn­stein steht völlig iso­liert im Hof gegen­über (etwa der Schlot einer alten Braue­rei zuguns­ten der trink­lus­ti­gen Alt­ber­li­ner?), dahin­ter der Sei­ten­flü­gel eines ande­ren Kiez­hau­ses. In sämt­li­chen Stock­wer­ken rie­sige Fens­ter­fron­ten, Marke aus­ge­bau­tes Loft und gleich dar­über der klare Himmel. Man ahnt es, da lebt noch einer.

Wei­tere Informationen 

Buch­tip:

  • “Kul­tur­wege in Prenz­lauer Berg” mit ca. 200 Sehenswürdigkeiten
  • Preis: 2,60 Euro