Auslandssemester in Turin

Turin lan­dete eher zufäl­lig auf meiner Liste für das Eras­mus-Pro­gramm. Viel­leicht auch etwas unty­pisch für ein Aus­lands­se­mes­ter im Fach Nord­ame­ri­ka­stu­dien. Ich wusste anfangs so wenig über diese Stadt, dass ich nicht einmal Vor­ur­teile parat hatte. Nach­hilfe kam prompt: “Was willst Du denn da, stu­dierst Du nicht was mit Eng­lisch?! Außer­dem kannst Du doch kein Italienisch!”

Wenn es schon Ita­lien sein sollte, dann bitte Rom, Vene­dig oder Bolo­gna, aber Turin? “Das ist doch so eine Indus­trie­stadt im Norden, da gibt es nix außer Fiat, Nebel und Juven­tus.” Mit sol­chen Rat­schlä­gen machte ich mich im Februar auf in die Stadt, die in den Top Ten der schöns­ten ita­lie­ni­schen Städte zu Unrecht immer auf Platz 9 oder 10 landet.

Mit Eng­lisch kam ich nicht weit, so dass ich mich die ersten Wochen mit Händen und Füßen unter­hielt. Was nicht selten zu lus­ti­gen Miss­ver­ständ­nis­sen führte. Anfangs ver­stand ich zum Bei­spiel nicht, wieso ich in jeder Bar komisch ange­schaut wurde, wenn ich die Toi­lette benut­zen wollte. Bis ich mit­be­kam, dass ich nicht nach der Toi­lette, son­dern nach der Wasch­ma­schine gefragt hatte. Dank Sprach­kurs, Tand­em­part­nern, ita­lie­ni­schen Mit­be­woh­nern und Freun­den sowie Voka­bel lernen mit Comics und La Stampa konnte ich sol­chen Fett­näp­fen jedoch bald ausweichen.

Wer glaubt, man geht ein­fach ins Aus­lands­amt der Uni, bekommt dort Zim­mer­chen, Stun­den­plan und viel­leicht einen ita­lie­ni­schen Tutor zuge­teilt, irrt gewal­tig. Immer­hin gab man Aus­tausch­stu­den­ten bei der Ankunft Stadt­plan und Stu­den­ten­aus­weis mit auf den Weg. Eine Hürde, mit der alle Eras­mus­stu­den­ten zu kämp­fen hatten, war die Zim­mer­su­che. So quar­tierte ich mich in der Jugend­her­berge ein und klap­perte jeden Tag sämt­li­che schwarze Bret­ter der Stadt ab.

Der Turi­ner Woh­nungs­markt ist heiß umkämpft. Dem­entspre­chend hoch sind die Mieten und meist teilt man sich ein Zimmer.

Ein­zel­zim­mer fangen bei 250–300 Euro im Monat an, sofern man denn eins findet. Miet­ver­träge gibt es oft nicht. Mit­be­woh­ner­aus­su­chen schien ein Hobby der Turi­ner zu sein, nicht selten hatten sich schon 10 bis 15 Leute vor einem das Objekt der Begierde ange­schaut. So schraubte ich meine Ansprü­che schnell her­un­ter und hoffte auf irgend­ein bal­di­ges Dach über dem Kopf. Nach etwa einer Woche erbarm­ten sich drei kleine Ita­lie­ner. Leider musste die Woh­nung wegen Sanie­rung geräumt werden, sodass ich erneut umzog.

Durch Zufall fand ich mit einem Eras­mus­stu­den­ten aus Slo­we­nien eine Woh­nung mitten im Stadt­zen­trum. Dies­mal ver­an­stal­te­ten wir das Mit­be­woh­ner-Cas­ting, was ein Stu­dent aus Sar­di­nien und eine Turi­ner Stu­den­tin gewan­nen. Das Semes­ter konnte losgehen!

Die Fakul­tä­ten sind im ganzen Stadt­zen­trum ver­streut, so trifft man über­all auf Stu­den­ten. Das Haupt­ge­bäude erin­nert an eine Mischung aus Rost­laube der FU und Kauf­hof am Alex. Es befin­det sich direkt neben der “Mole”, dem etwas skur­ri­len Wahr­zei­chen Turins. Ursprüng­lich als Syn­agoge gedacht, dient es heute als Aus­sichts­turm und moder­nes Filmmuseum.

Aber zurück zur Uni. Jawohl, Eras­mus­stu­den­ten machen manch­mal sogar Scheine. Das ita­lie­ni­sche Uni­ver­si­täts­sys­tem ist extrem ver­schult. Die Kurse umfas­sen in der Regel 6 SWS und bestehen meist aus jeweils drei­stün­di­gen Mono­lo­gen des Dozen­ten, den die Stu­den­ten wört­lich vom ersten bis zum letz­ten Atem­zug des Profs mit­pin­seln. Keine Refe­rate, Dis­kus­sio­nen oder Haus­ar­bei­ten, statt­des­sen stehen am Ende des Semes­ters eine Klau­sur und/oder eine münd­li­che Prüfung.

Das Ange­bot in Ame­ri­ka­nis­tik fiel eher spär­lich aus, also belegte ich inter­es­sante Ver­an­stal­tun­gen für meine Nebenfächer.

Andere Aus­tausch­stu­den­ten lernt man pro­blem­los bei der Woh­nungs­su­che, in der Mensa, in den Ita­lie­nisch­kur­sen oder auf Eras­mus­par­tys kennen. Ita­lie­ner schei­nen anfangs recht zuge­knöpft und nicht so kon­takt­freu­dig, aber ich hatte bald einen festen ita­lie­ni­schen Freundeskreis.

“Mit­be­woh­ner aus­su­chen scheint ein Hobby der Turiner.”

Auf den ersten Blick mag Turin grau und laut erschei­nen. Kein Kolos­seum, keine Gondel weit und breit. Doch die Stadt hat geschicht­lich und kul­tu­rell eine Menge zu bieten. Neben Barock­bau­ten säumen Cafés und Bars die Stra­ßen, außer­dem gibt es viele Museen. Wer Lust auf Men­schen­ge­wim­mel hat, sollte unbe­dingt auf einen der größ­ten Märkte Euro­pas an der Porta Palazzo. Neben Gemüse, Kla­mot­ten und ara­bi­schen Gewür­zen kann man hier even­tu­ell auch sein geklau­tes Fahr­rad wie­der­ent­de­cken. Im Sommer tum­meln sich die Turi­ner am Ufer des Po vor den Clubs in den alten Kel­ler­ge­wöl­ben der Kai­mau­ern. Wer gern Ski fährt, hat es nicht weit bis in die Alpen. Nicht umsonst finden 2006 in Turin und Umge­bung die olym­pi­schen Win­ter­spiele statt. Wem das nicht reicht, kann Ita­lien mit dem Zug ent­de­cken. Dabei sollte man mög­li­che anfal­lende Streiks oder Ver­spä­tun­gen ein­pla­nen. Geduld benö­tigt man auch bei Behör­den­gän­gen, Laden­öff­nungs­zei­ten und im chao­ti­schen Stra­ßen­ver­kehr. Aber letzt­end­lich wäre ein Aus­lands­se­mes­ter völlig lang­wei­lig, wenn alles so wäre wie in Deutschland.

So ver­ging die Zeit wie im Flug. Bis zum Win­ter­se­mes­ter in Berlin waren es noch 3 Monate, des­halb beschloss ich, mir ein Prak­ti­kum zu suchen. Stu­di­en­be­glei­tende Prak­tika sind in Ita­lien eher unty­pisch, Firmen nehmen fast nur Absol­ven­ten. Hinzu kommt, dass die meis­ten Ita­lie­ner bzw. Unter­neh­men den ganzen August über im Urlaub sind. Aber so leicht ließ ich mich nicht unter­krie­gen, ging zu Kar­rie­re­mes­sen, quetschte Freunde und Pro­fes­so­ren aus, bewarb mich auf Stel­len­an­zei­gen. Gleich beim ersten Vor­stel­lungs­ge­spräch erhielt ich eine Zusage von einer Agen­tur für Verlag und Wer­bung. Durch das Leo­nardo da Vinci Pro­gramm bekam ich finan­zi­elle Unter­stüt­zung. Der Papier­kram hatte es in sich, aber inzwi­schen hatte ich ja schon ganz andere Hürden gemeis­tert. Zudem waren die Sach­be­ar­bei­te­rin­nen des Leo­nardo­bü­ros in Cott­bus sehr nett.

Neben Lek­to­rats­ar­bei­ten für ver­schie­dene Ver­lage fielen in der Redak­tion auch mal Über­set­zun­gen, klei­nere Text­bei­träge oder Ideen­fin­dung für Illus­tra­tio­nen an. Stets unter Zeit­druck. Ihr kennt ja das Gefühl — schlaf­lose Nächte, extra Kaffee, der ver­dammte PC zum x‑ten Mal abge­stürzt und morgen ist die Haus­ar­beit fällig. Einer Kol­le­gin auf Ita­lie­nisch zu erklä­ren, dass Layout oder Font nicht stim­men, war auch etwas anders, als Pizza zu bestel­len oder einer Vor­le­sung zuzu­hö­ren. Durch wech­selnde Themen lernte ich eine Menge. Da sich meh­rere grö­ßere Pro­jekte anbahn­ten, ver­län­gerte ich das Prak­ti­kum. Es ist ein schö­nes Gefühl, in eine Buch­hand­lung zu mar­schie­ren und etwas in den Händen zu halten, woran man ein paar Monate zuvor gear­bei­tet hat. Neben gemein­sa­mer Mit­tags- und Espresso­pause war ich mit eini­gen Kol­le­gen auch mal im Kino oder auf Partys.

So wurden aus den anfangs geplan­ten 5 Mona­ten in Ita­lien schnell 13. Als ich schließ­lich die Heim­reise antre­ten musste, fiel es mir sehr schwer, zu gehen, denn die Stadt und meine “zweite Fami­lie” waren mir sehr ans Herz gewachsen.

Abschlie­ßend kann ich allen Stu­den­ten nur raten, sich von anfäng­li­chen Schwie­rig­kei­ten nicht unter­krie­gen zu lassen, egal, wohin ihr geht!