Von Tag zu Tag

Streik gehört irgend­wie zum stu­den­ti­schen Lebens­ge­fühl. Aber manch­mal über­rol­len einen auch die Ereignisse.

Tag 0: Stu­di­en­ge­büh­ren? Auto­ma­ti­sierte Studi-Ver­wal­tung? Über­füllte Semi­nare? Neue Stu­di­en­gänge? Men­sa­es­sen? Höchste Zeit für einen Streik. Wir treff en uns in meiner Küche, und Martin schlägt vor, das Prä­si­di­al­amt zu beset­zen. Sofi e schimpft über meinen Kaff ee, der nicht fair gehan­delt sei – des­halb kann sie ihn auf keinen Fall trinken. 

Tag 1: Wir woll­ten uns um neun treff en, um elf sind end­lich alle sieben da, und wir ziehen später zum Prä­si­di­al­amt. Der Prä­si­dent ist zur Mit­tags­pause und hat nach­mit­tags aus­wärts zu tun, erfah­ren wir. Wir dis­ku­tie­ren kon­struk­tiv, ob wir auf ihn warten oder es morgen erneut ver­su­chen. Den rest­li­chen Tag malen wir Trans­pa­rente und mobi­li­sie­ren alle Stu­den­ten, die wir kennen.

 

Tag 2: Schon um zehn ziehen wir wieder zum Prä­si­di­al­amt. Jemand hat den Prä­si­den­ten gewarnt – er begrüßt uns freund­lich und möchte mit uns kon­struk­tiv dis­ku­tie­ren. Wir essen seine Keks­dose leer und hängen Trans­pa­rente aus seinem Fens­ter. Jemand hat der Presse bescheid gege­ben, die ein Foto macht. Immer mehr machen beim Streik mit, abends ziehen wir sieben Initia­to­ren uns zurück und ver­tei­len die Auf­ga­ben. Ich bin „Strike Assis­tent Mana­ger“. Was ich kon­kret zu tun hätte, würde sich noch ergeben. 

Tag 3: Heute sind wir sehr viele und können ein Vor­le­sungs­ge­bäude eff ektiv blo­ckie­ren. Leider nur für zehn Minu­ten, aber der Teil­erfolg moti­viert uns. Wir rich­ten ein Streik­büro ein und planen wei­tere Aktio­nen. Ich über­nehme den ersten Abwasch und sorge für Kaff eenachschub. 

Tag 4: Heute ist die Mensa dran, denn der Prä­si­dent hat einen wich­ti­gen Termin beim Sena­tor – das sehen wir ein. Die Mensa öffnet glück­li­cher­weise erst nach elf, bis dahin können wir wei­tere Mit­strei­ter gewin­nen. Katja dreht lang­sam im Streik­büro durch, weil sie nicht hin­ter­her­kommt, die eMail-Adres­sen der Strei­ken­den zu erfas­sen. Tom besteht aber darauf, einen Streik-News­let­ter zur Koor­di­na­tion ein­zu­rich­ten. Von den 978 Emp­fän­gern des ersten News­let­ters kommen 183 eMails zurück. Katja muss die eMail-Adres­sen prüfen. Nach einer Stunde Mensablo­ckade bekom­men wir Hunger und bestel­len Pizza. Sofie bringt Kaff ee vorbei. 

Tag 5: Sofie will, dass wir end­lich unsere Ziele klar for­mu­lie­ren. Dabei haben wir uns noch gar nicht geei­nigt. Wieso sollen wir uns auf wenige klare For­de­run­gen beschrän­ken? So viel liegt im Argen! Belei­digt geht Sofie Kaffee kochen. Wir ver­sen­den unse­ren vier­sei­ti­gen For­de­rungs­ka­ta­log an die Medien und blo­ckie­ren danach ein wei­te­res Vor­le­sungs­ge­bäude, nach­dem der Wach­schutz uns aus dem ande­ren raus­ge­wor­fen hat. Blö­der­weise bekommt das kaum jemand mit, denn frei­tag­nach­mit­tags will da keiner mehr hin. 

Tag 6 und 7: Wir kon­so­li­die­ren uns und planen die nächste Woche. Die spär­li­che Bericht­erstat­tung in den Medien demo­ti­viert uns. Tim, Frauke und Chris ziehen los, um nackt über eine Ein­kaufs­straße zu laufen. Da es regnet, kommen sie bald wieder und Frauke niest in den Kaff ee. Sofi e ist sauer und ver­lässt uns. Ich kann sie nicht ver­ste­hen. Wer holt jetzt den Kaffee? 

Tag 8: Mit Elan tru­deln wir im Streik­büro ein. Die ver­siff ten Kaff eetas­sen sorgen für eine hit­zige Debatte über Abwa­schen, Rol­len­bil­der, Chau­vi­nis­mus. Außer­dem haben wir noch nichts gegen Stu­di­en­ge­büh­ren und das Men­sa­es­sen unter­nom­men. Martin will wieder den Prä­si­den­ten bela­gern. Aber von uns will keiner mit. Die Nach­richt, dass Sofi e ihre eigene Streik­gruppe grün­det, sorgt für Heiterkeit. 

Tag 9: Jetzt strei­ken wir schon andert­halb Wochen und wurden immer noch nicht inter­viewt! Ein Falt­blatt von Sofi es Streik­gruppe flat­tert ins Streik­büro. Es sieht sehr gut aus, und zwei möch­ten über­lau­fen, aber ich als „Strike Assis­tent Mana­ger“ kann sie über­zeu­gen, dass sie hier ernst­haft gebraucht werden. Wir planen wei­tere Aktio­nen und blo­ckie­ren eine Straße neben dem Ein­kaufs­zen­trum, nach­dem wir neuen Kaffee gekauft haben. 

Tag 10: Martin ist heute nicht erschie­nen. Ich treff e ihn in der Biblio­thek, als ich nach­schla­gen will, welche Rolle Streiks in der Geschichte gespielt haben. Auf dem Weg zum Streik­büro muss ich mich durch Sofi es Streik­kom­man­dos kämp­fen. Völlig erschöpft koche ich mir fri­schen Kaff ee, trinke ihn aber aus der Kanne, denn nie­mand hat abgewaschen. 

Tag 11: Der Streik wird wahr­ge­nom­men! Der Prä­si­dent kommt zu einer Podi­ums­dis­kus­sion, die Medien berich­ten, in der Stadt sind zahl­rei­che Stra­ßen blo­ckiert, die Bahnen haben Ver­spä­tung. Sofi e hat wirk­lich gute Arbeit geleis­tet! Ob sie wohl das Kaff epro­blem besser im Griff hat? 

Die geschil­der­ten Ereig­nisse sind frei erfun­den. Über­ein­stim­mun­gen mit der Rea­li­tät wären rein zufällig.