Meine Suppe ess‘ ich nicht

Im Früh­ling brei­tet sich unter vielen jungen

Men­schen Panik aus: Plötz­lich stel­len sie fest,

dass sie sich doch lieber nicht in den luftigen

Kla­mot­ten zeigen wollen und grei­fen zur Kohlsuppe.

Kohl­sup­pen­diät ist nur eine Form der

selbst­ver­ord­ne­ten Fol­ter­me­tho­den, die jährlich

Mil­lio­nen Frauen und Männer auf sich nehmen.

Sta­tis­ti­ken zufolge gibt es zwar mehr übergewichtige

Männer, aber das Diätfi eber ergreift

deut­lich mehr Frauen.

Beson­ders wenn die Jah­res­zei­ten wechseln,

stim­men sämt­li­che Frauenzeitschriften,

Well­ness­ma­ga­zine und Inter­net­ban­ner gemeinsam

in den ewig glei­chen Diät-Chor ein:

Low-carb-Diät, Atkins-Diät, South-Beach-Diät,

Low-fat-Diät, Kar­toff el-Diät und andere Selbstgeißelungsmethoden.

Das Glück und der Erfolg

werden einem regel­recht hin­ter­her­lau­fen, vorausgesetzt

man besitzt die opti­male Figur – so

die Ver­spre­chen. Die opti­male Figur hat aber oft

nicht mehr viel mit dem Nor­mal­ge­wicht zu tun.

Viel­sei­tige Einseitigkeit

Den viel­ver­spre­chends­ten Namen besitzt

die Glyx-Diät. Klang­lich ist sie leicht zu verwechseln

mit einer „Glücks-Diät“, aber es geht darum,

auf Brot, Kar­tof­feln, Reis, Nudeln – also Kohlenhydrate

– zu ver­zich­ten. Koh­len­hy­drate sind auf

dem besten Weg, das Fett als Haupt­feind abzulösen.

Doch wer viel leis­ten muss, geistigen

oder kör­per­li­chen Anstren­gun­gen ausgesetzt

ist, braucht hoch­wer­tige Koh­len­hy­drate, die die

erfor­der­li­che Ener­gie lie­fern. Außer­dem werden

Men­schen, die kaum Koh­len­hy­drate zu sich

nehmen, depres­siv und leis­tungs­schwach und

leiden oft unter Stimmungsschwankungen.

Ohne ärzt­li­che Anlei­tung ist von jeglicher

Diät, die eine ein­sei­tige Ernähung propagiert,

abzu­ra­ten. Ernäh­rungs­wis­sen­schaft­ler geben

bei all dem Diät-Hokus­po­kus zu beden­ken, dass

die meis­ten Diäten gesund­heits­schäd­lich sind.

Sie raten

Foto: Albrecht Noack

des­halb, die Ernäh­rung dau­er­haft umzustellen

und regel­mä­ßig Aus­dau­er­sport zu

trei­ben.

Der neu­este Diät-Trend aus den USA nennt

sich „Nut­ri­ge­no­mics“. Die Nutrigenomforschung

stellt pas­send zum jewei­li­gen Gen­profi l des Diätwilligen,

einen per­so­na­li­sier­ten Diät­plan auf,

der bestimm­ten Krank­hei­ten vor­beu­gen soll, für

die bei der Gen­un­ter­su­chung ein erhöh­tes Risiko

fest­ge­stellt wurde. Kri­ti­ker dieser Methode

melden sich bereits zu Wort: Aus der Genanalyse

sei ledig­lich die Wahr­schein­lich­keit für eine

bestimmte Krank­heit ableit­bar, die Testergebnisse

sind stark ver­ein­facht, und die Ratschläge

der Deut­schen Gesell­schaft für Ernäh­rung beinhalten

größ­ten­teils dasselbe.

Star­kes Über­ge­wicht gilt zwar als Risikofaktor

für Krank­hei­ten wie Dia­be­tes Typ II, Herz-Kreislauf-

Erkran­kun­gen, Krebs und Arthrose, und

gerade bei Kin­dern wird Über­ge­wicht immer

häufi ger dia­gnos­ti­ziert. Aber seit­dem die Weltgesundheitsorganisation

WHO von einer „glo­ba­len

Epi­de­mie“ des Über­ge­wichts gesprochen

hat, ist ein regel­rech­ter Diät­wahn ausgebrochen.

Jetzt gilt es, das Ganze etwas nüchterner

zu betrach­ten. Es kann nicht Sinn der Sache sein,

eine Abnehm­hys­te­rie auszulösen.

Erfolg­reich dünn, faul dick

Fett­feind­lich­keit, Angst vor dem Dicksein

und aktive Schlank­heit ent­spre­chen dem Zeitgeist.

Schlanke Men­schen ver­mit­teln angeblich

den Ein­druck, ihr Leben aktiv zu gestal­ten sowie

dyna­misch und ziel­stre­big zu sein. Der dicke

Mensch gilt als phleg­ma­tisch, faul und undiszipliniert.

Chefs unter­stel­len schlan­ken Angestellten

mehr Eigen­in­itia­tive und Ver­ant­wor­tung, dicken

trauen sie weni­ger zu.

Nicht immer war die schlanke Linie das gesellschaftliche

Leit­bild. Das späte Mit­tel­al­ter betonte

den dicken Bauch als Symbol der Fruchtbarkeit,

wäh­rend im 17. Jahr­hun­dert eher die

müt­ter­li­che Figur en vogue war. Wogende Brüste

und kräf­ti­ges Sitz­fleich zieren die Venus von

Paul Peter Rubens. Bis Ende des 19. Jahrhunderts

galt eine gesunde Kör­per­fülle als erstre­bens­wert. Frauen pols­ter­ten ihre Klei­dung und aßen

reich­lich, um nicht dünn zu wirken.

John Harvey Kellog, der Erfin­der der Cornfl

akes, grün­dete in den USA zu Beginn des 20.

Jahr­hun­derts den ersten Well­ness-Tempel. Dort

trafen sich reiche Ame­ri­ka­ner, um abzunehmen.

Die Diät­in­dus­trie erlebte ihren ersten Höhepunkt.

Im Ver­lauf des letz­ten Jahr­hun­derts verloren

die weib­li­chen Run­dun­gen zuse­hends an

Attrak­ti­vi­tät. Zum Ideal wurde der androgyne,

dünne Körper erst­mals in den 20er Jahren. Frauenzeitschriften

pro­pa­gier­ten das neue Körperbild

und als Begleit­erschei­nung wuchs die Zahl

der Ess­stö­run­gen rapide. 1926 berief die New

York Aca­demy of sci­ence auf­grund des neuartigen

Phä­no­mens eine Kon­fe­renz ein.

Twiggy und Adonis

Von 1935 bis in die 50er Jahre nahmen Frauenkörper

zwar wieder an Fülle zu, die 60er Jahre

läu­te­ten aber die end­gül­tige Trend­wende zum

Schlank­sein ein. Mit dem extrem dünnen Model

Twiggy, die bei 1,70 Meter nur noch 42 Kilo wog,

rollte die zweite Diät­welle los. Die Frauen in den

Zeit­schrif­ten wurden immer dünner und die Anzeigen

dane­ben warben immer häu­fi­ger für Diätartikel.

Bei den „Miss America“-Gewinnerinnen

sowie den Models im „Play­boy“ zwischen

1959 und 1979, sank das Gewicht im Verhältnis

zur Kör­per­größe stetig. Brust, Hüfte und Bauch

wurden schlan­ker. Publi­ka­tio­nen zu Diätkuren

ver­zeich­ne­ten einen enor­men Anstieg. Dem

fül­li­gen weib­li­chen Köper wurde der Kampf angesagt.

Fit­ness- und Diät­ap­pelle rich­ten sich weit

häufi ger an Frauen als an die stär­ker gefährdete

Gruppe über­ge­wich­ti­ger Männer mitt­le­ren Alters.

Dar­über­hin­aus werden im Fern­se­hen weitaus

sel­te­ner über­ge­wich­tige Frauen als Männer

gezeigt. Der Druck auf die Frauen spie­gelt sich

in ihrem Diät-Ver­hal­ten wieder.

Zur Über­prü­fung

der Aus­wir­kun­gen des media­len Schlankheitsideals

zeigte man in einem Test etwa 150

Col­lege-Stu­den­tin­nen Abbil­dun­gen von extrem

dünnen Models aus der Zeit­schrift „Cos­mo­po­li­tan“.

Über 75 Pro­zent von ihnen gab zu,

beim Anblick der Bilder von Köperunzufriedenheit

und Unsi­cher­heit erfasst worden zu sein.

Body Mass Index (BMI)

Bei der Gewichts­kon­trolle hilft der so

genannte „Body Mass Index“. Er ist

ein­fach zu berech­nen: Körpergewicht

durch das Qua­drat der Kör­per­größe in

Meter teilen, für 75 Kilo bei 1,80 Meter

Größe beträgt er also 75 : 3,24 = 23. Für

19- bis 24-Jäh­rige sollte er zwi­schen 19

und 24 liegen. Bei den 25- und 34-Jährigen

ist ein Wert zwi­schen 20 und 25

in Ord­nung. Außer­halb dieser Grenzen

han­delt es sich um Unter- oder Übergewicht,

dabei ist ein individueller

Spiel­raum zu berücksichtigen.

Auch auf der männ­li­chen Seite exis­tiert ein

ebenso absur­des Ideal: breite Schul­tern, schmale

Hüften und ein mus­ku­lö­ser Körper zeichnen

den attrak­ti­ven Mann aus. Der Druck, vor dem

Spie­gel­bild bestehen zu müssen und der Umwelt

ein per­fek­tes Bild abzu­lie­fern, wächst auch

auf der Män­ner­seite. Wer sich krank­haft an den

Wasch­brett­bauch klam­mert und dafür eine Diät

nach der ande­ren durch­führt, leidet unter dem

so genann­ten „Adonis-Kom­plex“. Im Extremfall

kommt es zu einer Mus­kel­dys­mor­phie. Dann

besit­zen die Betroff enen eine gestörte Selbstwahrnehmung

und stre­ben nach einem immer

mus­ku­lö­se­ren Körper, obwohl die Grenze längst

erreicht ist.

Per­spek­ti­ven­wech­sel

Über­ge­wich­tig­keit und Schönheitsideale

sind zwei Seiten einer Medaille. Men­schen, die

sich ganz wohl in ihrer Haut fühlen könnten,

han­geln sich von einer Diät zur ande­ren. Nicht

selten ist dies der Ein­stieg in Ess­stö­run­gen wie

Mager­sucht, Fett­sucht oder Buli­mie. Neben den

Ess­ge­wohn­hei­ten soll­ten auch einmal die Sehgewohnheiten

über­prüft werden. 90–60-90 ist

Foto: Albrecht Noack

kein von Gott gege­be­nes Maß, son­dern ein kulturelles

Kon­strukt.

In weni­ger indus­tria­li­sier­ten Gesellschaften

steht Über­ge­wicht für Reich­tum, Stärke und

Frucht­bar­keit. Kaum jemand käme auf die Idee,

Mary­lin Monroe ihr Sex­ap­peal abzusprechen.

Ihre Run­dun­gen machen sie zu einer Ikone

der Sinn­lich­keit und der Ver­füh­rung. Dennoch

müsste man sie heute kon­se­quen­ter­weise mit

ihrer Klei­der­größe 4244 als zu dick bezeichnen.

Diverse Life­style-Maga­zine hätten bestimmt ein

paar gute Diät­tipps für sie parat. „Ich habe sicher

nicht das, was man eine gute Figur nennt“, erkannte

selbst Twiggy. Des­halb wird dieses Frühjahr

nicht auf Koh­len­hy­drate, son­dern auf Kohlsuppe

ver­zich­tet.

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