Kennen wir uns…

Jeder kennt die pein­li­che Situa­tion: du grüßt jeman­den, doch dein Gegen­über hat keine Ahnung, wer du bist. Sofort rat­tern seine Räder. Sekun­den­schnell durch­läuft er alle erdenk­li­chen Situa­tio­nen und Orte auf der Suche nach dem Moment, wann er dein Gesicht schon einmal getrof­fen hatte. Doch alle Mühe umsonst. Die tief ver­bor­gene Erin­ne­rung will nicht zum Vor­schein treten.

Glück­li­cher­weise pas­sie­ren solche Situa­tio­nen nicht all zu häufig. Es sei denn, man leidet an der erst seit 1947 bekann­ten Pro­so­pa­gno­sie – der Gesichts­blind­heit (grie­chisch „pro­so­pon” – Gesicht, „agno­sia” – Nicht­er­ken­nen). Man unter­schei­det zwei Arten: Die durch gehirn­be­trof­fene Unfälle erwor­bene Pro­so­pa­gno­sie ist sel­te­ner ver­brei­tet und kann dazu führen, dass man Gesich­ter von Bekann­ten, Freun­den oder sogar Eltern und Kin­dern nicht wie­der­erkennt, oder Men­schen­ge­sich­ter sogar mit Gegen­stän­den ver­wech­selt. Solche Fälle treten aber eher selten auf.

Häu­fi­ger ver­tre­ten ist die ange­bo­rene Pro­so­pa­gno­sie. Hier­bei han­delt es sich um eine ange­bo­rene Teil­leis­tungs­schwä­che des Gehirns, wodurch der Betrof­fene Pro­bleme hat, ein Gesicht einer Person sicher zuzu­ord­nen, was nur durch mehr­ma­li­ges Wie­der­be­geg­nen der Person lang­sam zu behe­ben ist.

Bei Fami­li­en­mit­glie­dern und engen Freun­den tritt dieses Pro­blem nicht mehr auf und berei­tet dem sozia­len Umfeld somit keine großen Schwierigkeiten.

Schät­zun­gen zufolge ist die ange­bo­rene Pro­so­pa­gno­sie weiter ver­brei­tet als früher ange­nom­men. Ein bis zwei Pro­zent der Bevöl­ke­rung sollen davon betrof­fen sein. Eine davon ist Janine Greyer. Der 27-jäh­ri­gen Stu­den­tin der FU Berlin wäre ihre Krank­heit wohl nie auf­ge­fal­len, wenn nicht ihre Freunde zu Kin­des­zei­ten sie immer damit auf­ge­zo­gen hätten, dass sie keine Schau­spie­ler oder Sänger kannte. Janine kannte sie schon, nur konnte sie sich nie an ihre Gesich­ter erin­nern. „Ich erkenne nie einen Schau­spie­ler, außer Brad Pitt und George Cloo­ney.“ Sie lacht und erin­nert sich an Geschich­ten, wo sie sich Leuten vor­stellte, die sie eigent­lich schon kannte. „Einmal war ich bei einer Hoch­zeit von einem Bekann­ten. Tage später lernte ich ein paar neue Leute in einer Bar kennen. Als ich mich einem von ihnen vor­stellte, ant­wor­tete er ‚Ich kenn dich doch schon. Du musst ja ziem­lich betrun­ken gewe­sen sein!’ Es stellte sich heraus, dass er der Bräu­ti­gam war.” 

Beson­ders zu stören scheint Janine die Krank­heit nicht. „Man sieht ja, es ist eher lustig, als schlimm. Blöd ist es nur im Beruf, wenn man sich nicht an wich­tige Geschäfts­part­ner erin­nern kann. Das kann dann als Igno­ranz oder Hoch­nä­sig­keit gewer­tet werden.“ Aber im Grunde bedeu­tet das Wissen um Pro­so­pa­gno­sie nichts ande­res, als dass man einer beson­de­ren Erin­ne­rungs­schwä­che einen Namen gibt. Im Leben der Betrof­fe­nen ändert sich kaum etwas.

Einen Vor­teil scheint die Sache aber zu haben: Einen ersten schlech­ten Ein­druck kann man wieder wett­ma­chen, oder? „Nein! Men­schen, die einen beson­ders schlech­ten ersten Ein­druck hin­ter­las­sen haben, krie­gen keine zweite Chance”, stellt Janine klar. „Denn an beson­ders nette oder unsym­pa­thi­sche Leute erin­nere ich mich dann doch.“

Aber nicht, dass ihr jetzt denkt, nur weil sich jemand nicht an euch erin­nert, ist er gleich Pro­so­pa­gnos­ti­ker. Manch­mal lag es dann doch am eige­nen Beneh­men, dass lieber samt euch ver­ges­sen werden will.