Wo sind all die Fahnen hin?

Im Sommer schwam­men wir im Fah­nen­meer – was bringt der Herbst für Schwarz-Rot-Gold?

Wir hoff­ten mit unse­ren Jungs, besan­gen den Titel, hatten Freunde zu Gast, waren die net­tes­ten Men­schen der Welt, mach­ten unse­rem Namen als Bier­trin­ker alle Ehre, ver­ga­ßen alles andere Essen­zi­elle, dreh­ten ein wenig an Deutsch­lands Bild und ebne­ten uns den Weg zu ein wenig luxu­riö­sem Patrio­tis­mus. Ist es das gewe­sen? Fra­gend stehe ich auf der Public-Viewing-Wiese, höre den Abpfiff in meinen Ohren nach­hal­len und fühle mich plötz­lich ganz allein – zum ersten Mal seit Wochen.

Hat die WM 2006 etwas geän­dert oder bewirkte sie nur einen befris­te­ten Wandel, der mit dem Aus­schei­den im Halbfi nale in kurzer Piz­za­ab­sti­nenz, dem Dau­men­drü­cken für Frank­reich und dem letz­ten Public-Viewing-Erleb­nis ver­ebbte? Gerade ges­tern sah ich eine ver­blie­bene und leicht ver­letzte, sich im Winde wie­gende Deutsch­land-Auto-Fahne. Das rot-schwarz-gol­dene Etwas als Symbol für ein wenig deut­schen Patrio­tis­mus – wir waren die tra­gen­den Figu­ren der neuen Hei­mat­phi­lo­so­phie. Die Phi­lo­so­phie, die noch kurz vor der WM auf „No-Go-Areas“ hin­un­ter­brach, dann in der Woche nach dem Eröff­nungs­spiel in ersten exzes­si­ven Kör­per­be­ma­lun­gen aus­ge­lebt wurde und spä­tes­tens in der drit­ten WM-Woche an jedem zwei­ten Auto pran­gerte: die neue Phi­lo­so­phie des stol­zen Deutschen. 

Für Traum­tän­zer eine neue Zeit­ge­schichte – für Mora­lis­ten eine Gefahr – für rechte Schmal­spur­den­ker die Mög­lich­keit sich dane­ben zu beneh­men – doch für die meis­ten ein­fach nur ein klasse Tor in eine neue Welt. 

Kurzum: Alles ist wieder im Nor­mal­zu­stand in Deutsch­land. Aber mit den Erin­ne­run­gen an den Früh­som­mer 2006 werden in unse­ren Herzen noch lange Gän­se­haut­im­pres­sio­nen und viel mehr als nur Fuß­ball­bil­der wach werden. Als die eigent­li­che Ver­än­de­rung wird fest­ge­hal­ten, dass das schwarz-rot-gol­dene Meer an Fahnen, wel­ches noch beim Eröff nungs­spiel so suspekt schien, jetzt ein Teil dessen ist, was das Feh­lende zum Beson­de­ren machte.

Doch, wo sind die Fahnen jetzt? Zusam­men­ge­rollt im Keller? Ein­ge­mot­tet? Warten sie gebü­gelt und gestärkt auf ihren nächs­ten Ein­satz? Kann man eine schwarz-rot-gol­dene Fahne, die noch intakt ist, ein­fach so weg­wer­fen, nur weil einem erst mal nicht ein­fällt, wofür man sie dem­nächst brau­chen könnte? Lässt der neu aus­ge­ru­fene Patrio­tis­mus die acht­lose Ent­sor­gung einer Fahne ohne Gewis­sens­bisse zu? Wie können wir eigent­lich ohne omni­prä­sen­tes Schwarz-Rot- Gold wei­ter­hin stolz auf dieses Land sein?

Eine kleine Ant­wort kommt aus Thü­rin­gen: Schwarz-rot-gol­dene Weih­nachts­ku­geln werden dieses Jahr ver­stärkt nach­ge­fragt. Dabei hatten sich die Baum­schmuck-Pro­du­zen­ten auf Schwarz-Weiß-Silber und Weiß-Rot-Aqua ein­ge­stellt – da kam der patrio­ti­sche Far­ben­trend eher über­ra­schend hinzu. 

Nach­dem Schwarz-Rot-Gold jahr­zehn­te­lang eine his­to­ri­sche und poli­ti­sche Bedeu­tung aus­strahlte, ist jetzt eine sport­li­che hin­zu­ge­kom­men. Dazu kommen noch ästhe­ti­sche, prag­ma­ti­sche, diplo­ma­ti­sche, kom­mu­ni­ka­tive, emo­tio­nale und appel­la­tive Aspekte. Schwarz­rot- gold ist halt mehr als eine Farb­kom­bi­na­tion. Es ist der Aus­druck vieler Gefühle – über die zu strei­ten bleibt.