Luftiges Berlin

Stress, Stra­ßen­bah­nen und schrei­ende Bau­ar­bei­ter können das meist schöne Ber­li­ner Leben zur beben­den Hölle machen. Beson­ders zwi­schen Schon-nicht-mehr-Herbst und Nochnicht- Weih­nach­ten scheint die Stadt über­voll von tris­ten Gebäu­den, trost­lo­sen Gesich­tern und trop­fen­den Ben­zin­schläu­chen. Bars und Restau­rants sind über­füllt mit warm ein­ge­pack­ten Miche­lin-Männ­chen, das letzte geheim-gemüt­li­che erst kürz­lich ent­deckte Café ist zum neuen Ber­li­ner „Hot Spot“ ernannt worden. Wohin flie­hen? Wo kann man dem tris­ten Häu­ser­meer entkommen?

Seit eini­gen Jahren hat sich eine wun­der­schöne, aller­dings auch etwas gefähr­li­che Sub­kul­tur in Berlin ent­wi­ckelt. Die unzäh­li­gen Ber­li­ner Häu­ser­sa­nie­run­gen bieten die per­fekte Mög­lich­keit, über Bau­ge­rüste oder ein­fach nur offene Dach­lu­ken auf die Dächer und damit zu einem völlig ande­ren Blick auf die Haupt­stadt zu gelan­gen. Eine Aus­sicht von oben scheint erst mal nichts beson­de­res zu sein, kennt man schon vom Eifel­turm, von Notre Dame oder vom schie­fen Turm von Pisa. Stadt bleibt Stadt. Aller­dings ist es etwas völlig ande­res, die eigene Hei­mat­stadt von oben zu betrach­ten. Orte und Stra­ßen, die einem samt den kleins­ten Ver­win­ke­lun­gen und Graffi titags zen­ti­me­ter­ge­nau bekannt zu sein schie­nen, bekom­men in schwin­del­erre­gen­der Höhe ein völlig ande­res Gesicht. 

Der nächt­li­che Alex­an­der­platz, das Cubix, der erleuch­tete Kauf­hof, das Rote Rat­haus. Ein ver­las­se­nes Gebäude ist mit Glas­split­tern über­sät; die knapp zwan­zig Etagen sind ohne Fahr­stuhl zu erklim­men. „Hier ist es ein­fach, aufs Dach zu gelan­gen“, erklärt ein Erfah­re­ner den wage­mu­ti­gen Neu­lin­gen. Die Gruppe klet­tert über Bau­ge­rüste und muss gefähr­lich aus­se­hende Balan­ce­akte voll­füh­ren, um zur ersehn­ten Aus­sicht zu gelan­gen. Noch zehn Meter Feu­er­lei­ter sind zu bewäl­ti­gen. Aber dann: die Aus­sicht – ein­fach phä­no­me­nal! Ein über­wäl­ti­gen­des Bild aus einem Meer von Lich­tern, das durch die unzäh­li­gen Schorn­steine und Anten­nen gebro­chen wird. 

„Am Anfang jedes ersten Klet­ter­er­leb­nis­ses steht die all­täg­li­che Lan­ge­weile oder der Wunsch nach etwas Neuem und Auf­re­gen­dem.“ Man sucht sich ein Dach, hofft, dass die Wach­leute einem nicht die Feu­er­lei­ter unter den Füßen weg­rei­ßen und klet­tert hinauf. Ab diesem Augen­blick spal­ten sich die Mei­nun­gen und Ein­drü­cke der Klet­te­rer in zwei Grup­pen: Die einen empfi nden die Erfah­rung nicht anders als die Aus­sicht vom Fern­seh­turm – ganz schön, aber sicher nicht knapp zehn Euro Ein­tritt wert oder eine vom Rum­klet­tern ver­dreckte Hose. Die ande­ren hin­ge­gen sind dem Dach­klet­tern für immer ver­fal­len. Sie lieben gerade das Aben­teuer, die Angst erwischt zu werden. Denn auf fremde Dächer zu klet­tern, bedeu­tet juris­tisch betrach­tet in vielen Fällen Haus­frie­dens­bruch. Für diese lei­den­schaft­li­chen Fas­sa­den­tän­zer ist es fast lebens­not­wen­dig, dass man nicht von Hun­der­ten von Tou­ris­ten umla­gert wird. 

„Es geht um die Ruhe – keine Autos, Stra­ßen­bah­nen und Bau­stel­len, die einem die Sicht ver­sper­ren.“ Das exklu­sive Gefühl, seine Lieb­lings­stadt aus einer Per­spek­tive zu betrach­ten, die den meis­ten Ein­woh­nern ver­wehrt bleibt, ist hier­bei ein genauso inter­es­san­ter Aspekt, wie der Grund, dass man beob­ach­ten kann, ohne selbst beob­ach­tet zu werden. „Dem Müll­mann, dem Heim­keh­rer, dem Bäcker oder dem Flo­ris­ten von oben auf ihr Trei­ben schauen. Was für ein Anblick!“ Zuge­ge­ben, ein biss­chen Voy­eu­ris­mus ist dabei, aber letzt­lich ist es doch der schwin­del­erre­gende Aus­blick dieses gefähr­li­chen Per­spek­ti­ven­wech­sels, der einen süch­tig macht.