Italien: Venedig

Tene­riffa oder Vene­dig? Haben oder nicht haben? Diese Fragen stellte ich mir bei meiner Bewer­bung für ein ERAS­MUS-Sti­pen­dium an meiner Fakul­tät. Denn eigent­lich wollte ich mein recht mick­ri­ges Spa­nisch auf­bes­sern. Doch der Ansturm auf die Feri­en­in­sel war erwar­tungs­ge­mäß so groß, dass meine Chan­cen auf einen Stu­di­en­platz im Aus­land besser waren, wenn ich mich für die Lagu­nen­stadt entschied. 

Nach erfolg­rei­cher Bewer­bung schrieb ich mich an der hie­si­gen Uni für einen Ita­lie­nisch­kurs ein. Die Sprach­kurse sind immer aus­ge­bucht und es ist schwer, einen Platz zu bekom­men, aber der Beleg über das Sti­pen­dium öffnet Türen zu Semi­nar­räu­men. Die Kurse sind sehr zeit­in­ten­siv, aber eben auch inten­siv. In weni­gen Mona­ten habe ich gelernt, mich gut auf Ita­lie­nisch zu ver­stän­di­gen. Das ist wich­tig in Ita­lien. Mit Eng­lisch kommt man nicht weit. Und selbst in einer Stadt wie Vene­dig, die vom Tou­ris­mus lebt, findet man Wenige, die gut Eng­lisch spre­chen. Umge­kehrt sollte man als aus­län­di­scher Stu­dent mehr beherr­schen als das Tou­ris­teni­ta­lie­nisch á la buon giorno, come stai, una pizza per favore, due espressi, grazie. Die büro­kra­ti­schen Hürden am Anfang, wie sie in allen Län­dern zu über­win­den sind, also ver­schie­dene Anmel­dun­gen, Regis­trie­run­gen, Bean­tra­gun­gen und Ein­schrei­bun­gen, sind umso höher, wenn man die Spra­che nicht spricht. Und dann die Woh­nungs­su­che! Ein eif­ri­ger Beam­ter spricht viel­leicht noch ein paar Bro­cken Eng­lisch. Aber ein altes Müt­ter­chen, das ein Kabuff an Stu­den­ten ver­mie­tet? Ich hatte schon hier einen Horror davor. Ich sah mich kof­fer­schlep­pend über aber­tau­sende Brü­cken und Kanäle hetzen, ver­lo­ren im Irr­gar­ten der klei­nen engen Gassen. Trotz ADAC-Stadt­plan brauchte ich zwei Monate, um mich in der Stadt nicht mehr zu ver­lau­fen. Mit der Woh­nungs­su­che aber hatte ich Glück. Nach meiner ersten Nacht in der ein­zi­gen Jugend­her­berge in Vene­dig auf der süd­li­chen Insel Giudecca, ging ich am nächs­ten Morgen zum Büro der ESU, der Stu­den­ten­ver­wal­tung, die auch viele Wohn­heime betreut. Ich bekam auf Anhieb einen Platz, und sogar ein Ein­zel­zim­mer. Eine Stu­den­tin war abge­sprun­gen, weil das Wohn­heim nicht in Vene­dig selber lag, son­dern in Mar­ghera, ein Vorort von Vene­dig. Ich über­legte auch einen Moment, als ich das hörte. Denn wenn ich schon mal hier war, sollte ich auch in Vene­dig wohnen, oder? Aber ich war erst mal froh, dass ich sofort ein­zie­hen konnte und nicht mehr die 20 Euro pro Nacht auf Giudecca bezah­len musste. Die Orga­ni­sa­tion der Ver­wal­tung mutete etwas chao­tisch an, dafür war vieles eben auch weni­ger büro­kra­tisch. So ver­si­cherte man mir, ich könne Ende jeden Monats neu ent­schei­den, ob ich länger im Wohn­heim blei­ben wollte. So hielt ich mir die Option offen, nach einer ande­ren Unter­kunft in Vene­dig zu suchen. 

Von der Adria­tic aus, dem Wohn­heim in Mar­ghera, gelangt man in nur zehn Minu­ten mit dem Bus zum Piaz­zale Roma, der Ver­kehrs­schnitt­stelle Vene­digs und gleich­zei­tig dem End­bahn­hof für Bus und Auto. Von hier aus geht es nur zu Fuß oder per Vapo­retto übers Wasser weiter.

Prak­tisch: Ganz wie in London in der Under­ground liegt in den Anle­ge­stel­len in Vene­dig mor­gens eine kos­ten­lose Zei­tung aus: “Leggo”. Die “les‘ ich” bei der Überfahrt. 

Wenige hun­dert Meter Luft­li­nie ent­fernt vom Wohn­heim beginnt das größte Indus­trie­ge­biet Nord­ita­li­ens, und direkt vor der Tür ver­läuft die Auto­bahn­aus­fahrt. Doch ich hatte mich schon am Abend des ersten Tages ent­schlos­sen, nicht weiter auf Woh­nungs­su­che in Vene­dig zu gehen. Denn die Gesell­schaft der ande­ren rund 75 Stu­den­ten und die freund­schaft­li­che Atmo­sphäre im Wohn­heim war mir wich­ti­ger als ein Bett in Vene­dig Stadt. Eng­lisch konnte ich auch hier allen­falls mit den ande­ren Aus­län­dern spre­chen, Kroa­ten, Serben, Bos­nier, Rumä­nen, oder Eras­mus­stu­den­ten aus Spa­nien und Por­tu­gal. Aber gerade der Zwang, Ita­lie­nisch zu reden, half mir unge­mein, meine Sprach­kennt­nisse in den vier Mona­ten zu verbessern. 

Meine Ess­ge­wohn­hei­ten musste ich nicht umstel­len: Es gab Pasta satt, ganz klar. Hier gibt es ebenso viele ver­schie­dene Arten Nudeln wie Corn­flakes in den USA. Und dazu noch ein biss­chen güns­ti­ger als hier. Aller­dings nahm man es mir übel, als ich Ketchup auf die Spa­ghetti kippte. Das macht man in Ita­lien ein­fach nicht. Dage­gen ist es völlig in Ord­nung, die Piz­za­stü­cke in Ketchup zu tunken. 

Der Zustand der Medien hat mich ein wenig scho­ckiert. Es waren nicht allein die Inhalte der Texte in den Zei­tun­gen oder der Bei­träge im Fern­se­hen. Mein Ita­lie­nisch war nicht gut genug, um die lite­ra­ri­sche Qua­li­tät zu beur­tei­len. Und es war auch nicht die Tat­sa­che allein, dass der Regie­rungs­chef gleich­zei­tig Herr über eine große Reihe an Fern­seh­sen­dern und Tages­zei­tun­gen ist. Auch nur amü­sie­ren konnte ich mich über die vor­herr­schen­den Themen des abend­li­chen Fern­seh­pro­gramms: Sport und Sex. Hier habe ich zum ersten Mal Frauen in “Män­ner­sen­dun­gen” gese­hen, die ein­fach nur da saßen, knapp beklei­det, und gar nichts sagten, oder nur spo­ra­disch. Gewis­ser­ma­ßen als Blick­fang, zum Ver­gnü­gen der männ­li­chen Zuschauer. Viel­mehr hat mich die schlechte Qua­li­tät an sich gestört. Selbst in den Nach­rich­ten waren häufig ver­wa­ckelte und unscharfe, fast ama­teur­hafte Bilder zu sehen. Und in den Zei­tun­gen lässt es selbst bei der Repub­blica an jour­na­lis­ti­schen Grund­la­gen ver­mis­sen. Keine Quel­len­an­ga­ben unter oft pixe­li­gen Fotos — wohl aus dem Inter­net gezo­gen. Das Layout ist lieb­los und ver­schwen­de­risch. Ansons­ten gibt es dort natür­lich den­sel­ben Mist wie hier. Auch Ita­lien ist vor Ende­mol nicht sicher. Aber wenigs­tens können die Kan­di­da­ten von “Gesang­con­test­sen­dun­gen” tat­säch­lich singen oder tanzen. Ja, die Kunst liegt dem Ita­lie­ner im Blut. Das zeigt auch die Mode. Und was mich erstaunte: Obwohl es schwie­rig ist, einen gut eng­lisch­spre­chen­den Ita­lie­ner zu finden, sind “Sex and the City” und Co. besser syn­chro­ni­siert als hier. In Ita­lien weiß man, wie man howe­ver über­setzt, und es gibt auch keine “nicht wirklich”-Sager.

 

Das Ange­bot der Uni im Bereich Ame­ri­ka­stu­dien hat mich nicht über­zeugt, aber als ERAS­MUS-Stu­dent darf man natür­lich nach Her­zens­lust fakul­täts­über­grei­fend studieren. 

Außer­dem hatte ich so mehr Zeit, Vene­dig zu erkun­den und die vielen schö­nen, gut ange­zo­ge­nen Men­schen zu bewun­dern. Mode­be­wusst und hübsch sind sie, die klei­nen Ita­lie­ne­rin­nen. Nur die über­gro­ßen Bril­len von Dior, die eher an Tau­cher­bril­len erin­nern, sind ganz schreck­lich und kommen hof­fent­lich hier nie­mals in Mode.

 

Wer den San Marco nur über­quert und dort keinen über­teu­er­ten Kaffee trinkt, hat noch so unglaub­lich viel zu bewun­dern. Allein die vielen ver­win­kel­ten Gassen bieten eine beein­dru­ckende Atmo­sphäre. Die Tou­ris­ten-schwemme, die im Mai beginnt, trübt diese jedoch auch. Für Archi­tek­ten und Künst­ler aber ist Vene­dig ein Traum. Man kann die Stadt her­vor­ra­gend zu Fuß erkun­den und unter Weg­kennt­nis­sen und stram­mem Fuß­marsch von Rialto aus jeden Punkt in gut einer halben Stunde errei­chen, Inseln aus­ge­schlos­sen. Von diesen sollte man unbe­dingt Murano und Burano besu­chen, dort kann man Glas­blä­ser­kunst in Per­fek­tion und ein wun­der­schö­nes Stadt­bild durch bunte Häuser bewun­dern. Der Strand auf Lido zählt zu den ersten Bade­strän­den in Europa. Wäh­rend man in Vene­dig nur auf die stin­ken­den Kanäle blickt, sieht man von dieser Insel aus übers weite Meer bis zum Horizont.

Das Nacht­le­ben ist für junge Men­schen nicht beson­ders auf­re­gend. Es gibt viele Bars aber nur einen erwäh­nens­wer­ten Club, das Round Mid­ni­ght, das inzwi­schen freche Ein­tritts­preise hat. Außer­halb vom Round wird um zwei das Ufer hoch­ge­klappt. Das kann man aber auch als Vor­teil sehen: Die Stille der schla­fen­den Stadt wird nur durch das leise Klat­schen des Was­sers an die Kanal­mau­ern unter­bro­chen, und wirkt unge­mein beru­hi­gend. Diese Stadt, mit der wohl nied­rigs­ten Ver­bre­chens­rate Ita­li­ens, ver­zau­bert, beru­higt, und hat mein Inter­esse für euro­päi­sche Kul­tu­ren neu erweckt. Der Stu­di­en­platz in Vene­dig blieb in diesem Semes­ter anschei­nend unbe­setzt. Man­gels Inter­esse. Leider kann man ein ERAS­MUS-Sti­pen­dium nur einmal in Anspruch nehmen. Schade. 

 

Boris Nowack