USA: Semesterferien in New York

Der Wecker hatte nicht geklin­gelt. Ich hatte offen­sicht­lich wieder p.m. und a.m. ver­wech­selt. Ich schaute aus dem Fens­ter und es war ein wun­der­schö­ner Tag. 

Das World Trade Center am 11.September 2001.

“Schade”, dachte ich mir, “wir hätten in den Cen­tral Park gehen können, oder noch mal zum World Trade Center”. Aber da wir noch zwei Wochen in New York blei­ben würden, war ich der Mei­nung, dass es nicht so schlimm sei, einen Tag ver­schla­fen zu haben. Ich schaute auf die Straße. Heute war sie beson­ders über­füllt. Ein Rie­sen­stau drän­gelte sich die 3rd Avenue hoch; dazu waren noch extrem viele Men­schen auf den Beinen und ström­ten Rich­tung Uptown. Auch die Sire­nen waren heute früh irgend­wie mehr gewe­sen als sonst. “Naja”, dachte ich mir, “ist halt New York”.

Wir gingen raus und such­ten etwas zum Früh­stü­cken, stan­den aber über­all vor ver­schlos­se­nen Türen. Wir liefen bis zur 5th Avenue und waren reich­lich ver­wun­dert. Es waren nur wenige Men­schen auf der Straße, kaum Taxis zu sehen, und das mitten in Man­hat­tan. Viele Men­schen schau­ten die Straße hin­un­ter Rich­tung Down­town, also dreh­ten wir uns auch um. Rauch! Jeden Menge Rauch. Es musste etwas pas­siert sein. Erneut ärger­ten wir uns dar­über, dass wir keinen Fern­se­her in unse­rem Hotel­zim­mer hatten. Wir liefen 20 Blocks bis wir an die Poli­zei­ab­sper­run­gen kamen. Wir gingen an den Absper­run­gen ent­lang bis zum Hudson River und schau­ten erneut  in Rich­tung der schwar­zen Wolken. Wieder nichts als Rauch, und lang­sam wurde für mich zur Gewiss­heit, was ich aus den Wort­fet­zen und Unter­hal­tun­gen der ver­stö­ren New Yorker um mich herum ent­zif­fert hatte. Die Twin-Towers waren nicht zu sehen. Ich holte meine Karte raus, schaute, ob man sie von der Stelle an der wir stan­den hätte sehen müssen. Man hätte. Ein Mann saß neben uns mit einem klei­nen Schwarz­weiß-Fern­se­her. Wir schau­ten auf den Moni­tor und hörten den Spre­cher reden: “Twin-Towers are gone”

Wir saßen bei McDonald’s am Times Square als wir end­lich sahen, was wir inzwi­schen nur ungläu­big von Pas­san­ten auf­ge­schnappt hatten. Zwei Pas­sa­gier­flug­zeuge wurden von Hija­ckern in die beiden Tower geflogen.

Mir wurde schlecht. Ich konnte meiner Burger kaum noch essen und mir stan­den die Tränen in den Augen. Ges­tern waren wir noch da, ges­tern erst. Wir hatten uns lustig gemacht über das Mill­en­nium Hilton und seinen Namen, haben in der Mall des WTC geshoppt, haben uns erkun­digt, was es kostet, auf die Aus­sichts­platt­form des Süd-Turms zu fahren, sind aber nicht rauf­ge­gan­gen, weil so schlech­tes Wetter war. In der Mall waren wir dann noch in einem Buch­la­den und haben uns Rei­se­füh­rer über Berlin ange­schaut, da wir nach vier Wochen [int­link id=“645” type=“post”]USA[/intlink] lang­sam Heim­weh bekamen.

Das World Trade Center vor 911.

All die Bücher sind weg, die Taschen, die meine Freun­din kaufen wollte, gibt es nicht mehr. Und Gott weiß was aus dem Ver­käu­fer wurde, der im Plat­ten­ge­schäft den fal­schen Scan­ner benutzte und danach rot anlief, weil wir ihn auslachten.

Zum zehn­ten Mal zeigen sie aus hun­dert ver­schie­den Win­keln wie die Flug­zeuge in die Türme kra­chen. Meine Freun­din ist raus­ge­rannt, um ihren Ver­wand­ten anzu­ru­fen und zu sagen, dass es uns gut geht. In Berlin sei die Hölle los und alle haben sich fürch­ter­li­che Sorgen gemacht; man spre­che von Krieg, sagt sie als sie wieder kommt.

“Ja, Krieg, das war eine aggres­sive Atta­cke auf Zivi­lis­ten der USA, das aller­erste Mal in der Geschichte.” Das war das erste, was mir in den Sinn kam, als ich rea­li­sierte was pas­siert ist. Mein zwei­ter Gedanke war: “Was um alles in der Welt können die USA gemacht haben, dass Men­schen solch einen Hass entwickeln?”

Im Hotel saßen wir mit den Ange­stell­ten in der Lobby und starr­ten auf den Fern­se­her. Mir wurde wieder schlecht. Ich bekam einen Migrä­ne­an­fall, den ersten seit sechs Jahren.

Die nächste Woche ver­ging sehr gemäch­lich. Poli­zei über­all, Poli­cea­ca­demy, Poli­zei aus New Jersey und aus dem Staate New York. Zu dem noch Mili­tärs und natür­lich Feu­er­wehr­män­ner, in Staub ein­ge­hüllte Feu­er­wehr­män­ner. Die halbe Stadt war abge­rie­gelt, und zunächst kam kaum einer nach Man­hat­tan rein. Man sah Kriegs­flug­zeuge über der Stadt krei­sen. Die Leute guck­ten ver­stört nach oben, wenn sie Flug­zeug­ge­räu­sche hörten. Alle Tou­ris­ten im Hotel mach­ten sich auf den Weg sobald sie einen Flug beka­men. Alle unsere Bekann­ten und Ver­wand­ten mein­ten, auch wir soll­ten so schnell wie irgend mög­lich aus der Stadt raus, zurück nach Deutsch­land. Sie dräng­ten uns, zur Bot­schaft zu gehen. Wir woll­ten gar nicht zurück. Wenn es einen siche­ren Platz auf der Erde gab, dann war das jetzt Man­hat­tan. Zudem hiel­ten wir es für falsch, ein­fach zu gehen. Wir wuss­ten, dass wir Zeit brauch­ten, die Gescheh­nisse vor Ort zu ver­ar­bei­ten. Wir wuss­ten, das wir gerade jetzt New York erle­ben muss­ten, Ame­ri­ka­ner erle­ben mussten.

Zunächst fühl­ten wir sehr stark mit ihnen. Über­all häng­ten Leute die Zettel von Ver­miss­ten auf. Jeder hatte eine Geschichte von jeman­dem zu erzäh­len, der an dem Tag da war. Manche Leute, die dort waren, oder am nächs­ten Tag hin konn­ten, bzw. muss­ten, erzähl­ten von Lei­chen­tei­len, die kreuz und quer ver­teilt waren. Ande­rer­seits ging weiter Uptown das Leben weiter. Stra­ßen­händ­ler ver­kauf­ten Fotos vom WTC, Post­kar­ten wurden seit langem auch mal wieder von Ein­hei­mi­schen gekauft. Die Leute schie­nen alle offe­ner zu sein und waren bereit, zu erzäh­len was sie fühl­ten. Wir waren tief betrof­fen, gingen mit den New Yor­kern auf die Straße und hiel­ten eine Kerze in der Hand, um unsere Anteil­nahme zu bekun­den, wir häng­ten sogar eine Ame­ri­ka­ni­sche Flagge in unser Hotel-Fenster.

Doch wir begrif­fen schnell, dass Ame­ri­ka­ner anders sind als Euro­päer. In den lau­fen­den Tagen wurde uns das sehr deut­lich bewusst. Keiner mit dem wir gespro­chen hatten, hatte sich die Frage gestellt, ob es evtl. Gründe gibt, die Men­schen ver­an­las­sen, solch eine Tat zu bege­hen und ob diese Gründe even­tu­ell in der eige­nen Außen­po­li­tik begrün­det sein könn­ten. Im Radio hörten wie diese Frage einmal; ein klei­nes Kind fragte seine Mutter: “Mommy, what have we done, to make them so mad at us?”

Wir wurden in unse­rem Urlaub sehr oft gefragt, wo wir her­kom­men. Die letz­ten Wochen wurde unsere Ant­wort immer fol­gen­der­ma­ßen kom­men­tiert: “Ah, that’s good, Ger­many is on our site!” Oft lasen und hörten wir auch fol­gen­den Kom­men­tar: “Nuke Them!”

Wir nahmen die Flagge wieder aus unse­rem Fenster.

Wir waren zu unse­rem Tou­ris­ten­all­tag zurück­ge­kehrt. Wir gingen in Museen. Wir fuhren nach Brook­lyn an den Strand, liefen über die wieder geöff­nete Brook­lyn-Bridge zurück nach Man­hat­tan, mach­ten Bilder von der neuen Sky­line, liefen über die Wall-Street, vorbei an Mili­tärs und Sicher­heits­ab­sper­run­gen und zwei Blocks weiter die Straße runter konnte man die Trüm­mer sehen, die immer noch rauch­ten. Ich wünschte, ich hätte nicht zurück nach Berlin gemusst.

Tat­jana Thiel

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