USA: Semesterferien in New York
Der Wecker hatte nicht geklingelt. Ich hatte offensichtlich wieder p.m. und a.m. verwechselt. Ich schaute aus dem Fenster und es war ein wunderschöner Tag.
“Schade”, dachte ich mir, “wir hätten in den Central Park gehen können, oder noch mal zum World Trade Center”. Aber da wir noch zwei Wochen in New York bleiben würden, war ich der Meinung, dass es nicht so schlimm sei, einen Tag verschlafen zu haben. Ich schaute auf die Straße. Heute war sie besonders überfüllt. Ein Riesenstau drängelte sich die 3rd Avenue hoch; dazu waren noch extrem viele Menschen auf den Beinen und strömten Richtung Uptown. Auch die Sirenen waren heute früh irgendwie mehr gewesen als sonst. “Naja”, dachte ich mir, “ist halt New York”.
Wir gingen raus und suchten etwas zum Frühstücken, standen aber überall vor verschlossenen Türen. Wir liefen bis zur 5th Avenue und waren reichlich verwundert. Es waren nur wenige Menschen auf der Straße, kaum Taxis zu sehen, und das mitten in Manhattan. Viele Menschen schauten die Straße hinunter Richtung Downtown, also drehten wir uns auch um. Rauch! Jeden Menge Rauch. Es musste etwas passiert sein. Erneut ärgerten wir uns darüber, dass wir keinen Fernseher in unserem Hotelzimmer hatten. Wir liefen 20 Blocks bis wir an die Polizeiabsperrungen kamen. Wir gingen an den Absperrungen entlang bis zum Hudson River und schauten erneut in Richtung der schwarzen Wolken. Wieder nichts als Rauch, und langsam wurde für mich zur Gewissheit, was ich aus den Wortfetzen und Unterhaltungen der verstören New Yorker um mich herum entziffert hatte. Die Twin-Towers waren nicht zu sehen. Ich holte meine Karte raus, schaute, ob man sie von der Stelle an der wir standen hätte sehen müssen. Man hätte. Ein Mann saß neben uns mit einem kleinen Schwarzweiß-Fernseher. Wir schauten auf den Monitor und hörten den Sprecher reden: “Twin-Towers are gone”
Wir saßen bei McDonald’s am Times Square als wir endlich sahen, was wir inzwischen nur ungläubig von Passanten aufgeschnappt hatten. Zwei Passagierflugzeuge wurden von Hijackern in die beiden Tower geflogen.
Mir wurde schlecht. Ich konnte meiner Burger kaum noch essen und mir standen die Tränen in den Augen. Gestern waren wir noch da, gestern erst. Wir hatten uns lustig gemacht über das Millennium Hilton und seinen Namen, haben in der Mall des WTC geshoppt, haben uns erkundigt, was es kostet, auf die Aussichtsplattform des Süd-Turms zu fahren, sind aber nicht raufgegangen, weil so schlechtes Wetter war. In der Mall waren wir dann noch in einem Buchladen und haben uns Reiseführer über Berlin angeschaut, da wir nach vier Wochen [intlink id=“645” type=“post”]USA[/intlink] langsam Heimweh bekamen.
All die Bücher sind weg, die Taschen, die meine Freundin kaufen wollte, gibt es nicht mehr. Und Gott weiß was aus dem Verkäufer wurde, der im Plattengeschäft den falschen Scanner benutzte und danach rot anlief, weil wir ihn auslachten.
Zum zehnten Mal zeigen sie aus hundert verschieden Winkeln wie die Flugzeuge in die Türme krachen. Meine Freundin ist rausgerannt, um ihren Verwandten anzurufen und zu sagen, dass es uns gut geht. In Berlin sei die Hölle los und alle haben sich fürchterliche Sorgen gemacht; man spreche von Krieg, sagt sie als sie wieder kommt.
“Ja, Krieg, das war eine aggressive Attacke auf Zivilisten der USA, das allererste Mal in der Geschichte.” Das war das erste, was mir in den Sinn kam, als ich realisierte was passiert ist. Mein zweiter Gedanke war: “Was um alles in der Welt können die USA gemacht haben, dass Menschen solch einen Hass entwickeln?”
Im Hotel saßen wir mit den Angestellten in der Lobby und starrten auf den Fernseher. Mir wurde wieder schlecht. Ich bekam einen Migräneanfall, den ersten seit sechs Jahren.
Die nächste Woche verging sehr gemächlich. Polizei überall, Policeacademy, Polizei aus New Jersey und aus dem Staate New York. Zu dem noch Militärs und natürlich Feuerwehrmänner, in Staub eingehüllte Feuerwehrmänner. Die halbe Stadt war abgeriegelt, und zunächst kam kaum einer nach Manhattan rein. Man sah Kriegsflugzeuge über der Stadt kreisen. Die Leute guckten verstört nach oben, wenn sie Flugzeuggeräusche hörten. Alle Touristen im Hotel machten sich auf den Weg sobald sie einen Flug bekamen. Alle unsere Bekannten und Verwandten meinten, auch wir sollten so schnell wie irgend möglich aus der Stadt raus, zurück nach Deutschland. Sie drängten uns, zur Botschaft zu gehen. Wir wollten gar nicht zurück. Wenn es einen sicheren Platz auf der Erde gab, dann war das jetzt Manhattan. Zudem hielten wir es für falsch, einfach zu gehen. Wir wussten, dass wir Zeit brauchten, die Geschehnisse vor Ort zu verarbeiten. Wir wussten, das wir gerade jetzt New York erleben mussten, Amerikaner erleben mussten.
Zunächst fühlten wir sehr stark mit ihnen. Überall hängten Leute die Zettel von Vermissten auf. Jeder hatte eine Geschichte von jemandem zu erzählen, der an dem Tag da war. Manche Leute, die dort waren, oder am nächsten Tag hin konnten, bzw. mussten, erzählten von Leichenteilen, die kreuz und quer verteilt waren. Andererseits ging weiter Uptown das Leben weiter. Straßenhändler verkauften Fotos vom WTC, Postkarten wurden seit langem auch mal wieder von Einheimischen gekauft. Die Leute schienen alle offener zu sein und waren bereit, zu erzählen was sie fühlten. Wir waren tief betroffen, gingen mit den New Yorkern auf die Straße und hielten eine Kerze in der Hand, um unsere Anteilnahme zu bekunden, wir hängten sogar eine Amerikanische Flagge in unser Hotel-Fenster.
Doch wir begriffen schnell, dass Amerikaner anders sind als Europäer. In den laufenden Tagen wurde uns das sehr deutlich bewusst. Keiner mit dem wir gesprochen hatten, hatte sich die Frage gestellt, ob es evtl. Gründe gibt, die Menschen veranlassen, solch eine Tat zu begehen und ob diese Gründe eventuell in der eigenen Außenpolitik begründet sein könnten. Im Radio hörten wie diese Frage einmal; ein kleines Kind fragte seine Mutter: “Mommy, what have we done, to make them so mad at us?”
Wir wurden in unserem Urlaub sehr oft gefragt, wo wir herkommen. Die letzten Wochen wurde unsere Antwort immer folgendermaßen kommentiert: “Ah, that’s good, Germany is on our site!” Oft lasen und hörten wir auch folgenden Kommentar: “Nuke Them!”
Wir nahmen die Flagge wieder aus unserem Fenster.
Wir waren zu unserem Touristenalltag zurückgekehrt. Wir gingen in Museen. Wir fuhren nach Brooklyn an den Strand, liefen über die wieder geöffnete Brooklyn-Bridge zurück nach Manhattan, machten Bilder von der neuen Skyline, liefen über die Wall-Street, vorbei an Militärs und Sicherheitsabsperrungen und zwei Blocks weiter die Straße runter konnte man die Trümmer sehen, die immer noch rauchten. Ich wünschte, ich hätte nicht zurück nach Berlin gemusst.
Tatjana Thiel