Vietnam: Im Aufbruch

Viet­nams Haupt­stadt lebt das Span­nungs­feld zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Gegenwart.

Wenn es ein Wort gibt, das das Leben in Hanoi prä­zise beschrei­ben kann, dann ist es defi­ni­tiv Hektik. Man spürt sie auf den Stra­ßen, die erobert werden durch unzäh­lige Mopeds. Man hört sie durch das stän­dige Hupen von Fahr­zeu­gen, das nie­mals auf­zu­hö­ren scheint und einen wissen lässt, dass Geduld und Gelas­sen­heit in dieser Stadt sehr selten zu finden sind. Und man sieht sie in den Men­schen­men­gen, die die zahl­lo­sen Cafés, Restau­rants und Shops besu­chen und ver­las­sen. Die Stadt bewegt sich in einer rast­lo­sen Geschwin­dig­keit. Die Ruhe findet man erst am frühen Morgen, wenn die Stadt noch schläft und kein Mensch unter­wegs ist. Da sieht man, dass Hanoi auch ruhig sein kann. Dann fragt man sich, ob es sich hier um die­selbe hyper­ak­tive Stadt han­delt, in der man vor ein paar Stun­den wegen des Lärmes manch­mal nicht mehr sein eige­nes Wort ver­stan­den hat. 
Jugend im Aufbruch 
Foto: Thu Trang

Die Dyna­mik der Stadt erin­nert an einen jungen Men­schen, der zwar nicht mehr ein Kind ist, aber auch noch nicht das Erwach­se­n­al­ter erreicht hat. Es sind genau jene jungen Men­schen, die anschei­nend den leben­di­gen Cha­rak­ter der Stadt prägen, abends auf Mopeds, eng umschlun­gen am See oder grup­pen­weise in Bars. Grup­pen­be­wusst­sein spielt hier eine signi­fi­kante Rolle, und selten sieht man einen jungen Viet­na­me­sen, der allein unter­wegs ist. Das macht es dem Indi­vi­dua­lis­mus schwer, denn in den meis­ten Fällen wird das Wohl der Gemein­schaft in den Vor­der­grund gestellt. Es gibt nicht genug Platz für das eigene Denken und Han­deln. Wenn es einen Trend gibt, dann wird er mit Sicher­heit auch alle errei­chen. Die korea­ni­sche Welle ist zum Bei­spiel in Viet­nam schon längst ange­kom­men, und man sieht diese über­all in der Stadt. Korea­ni­sche Soaps und Filme beherr­schen das viet­na­me­si­sche Kino und Fern­se­hen. Alles, was in Korea ein Trend ist, wird also früher oder später in Viet­nam zu sehen sein. Den ande­ren, west­li­chen Ein­fluss hört man zum Bei­spiel in der Jugend­spra­che, die sich unglaub­lich schnell ändert. Heute könnte ein Wort in Mode sein, aber nach eini­ger Zeit weiß man nicht einmal mehr, was dieses Wort bedeu­tet. Es ent­ste­hen viele Lehn­wör­ter wie zum Bei­spiel „Hot Boy“ oder „sexy“.

Vorbei sind die Zeiten, wo Beschei­den­heit als Tugend ange­se­hen wurde. Wer Geld hat, zeigt, dass er Geld hat. Wer Geld hat, schickt sein Kind zum Stu­dium ins Aus­land. Die Nach­frage ist riesig. Agen­tu­ren und Messen, die sich mit dem Thema Aus­lands­stu­dium beschäf­ti­gen, sprie­ßen wie Pilze aus dem Boden. Der Kapi­ta­lis­mus hat das kom­mu­nis­ti­sche Viet­nam längst erreicht. Viel­leicht stimmt es wirk­lich, dass es ziem­lich egal ist, ob die Katze nun schwarz oder weiß ist. Das wich­tigste dabei ist eher die Tat­sa­che, dass sie Mäuse fängt. Das urbane Leben zeigt es deut­lich. Poli­tik ist weit ent­fernt vom wirk­li­chen Leben. Poli­tik ist hier, wie auch in vielen ande­ren Län­dern, das sinn­lose und lange Reden von alten Män­nern. Viet­nams Poli­tik ist ver­gan­gen­heits­ori­en­tiert und spielt kaum eine Rolle im Leben eines viet­na­me­si­schen Jugend­li­chen. Diese junge Genera­tion scheint kein Geschichts- und Ver­gan­gen­heits­be­wusst­sein zu besit­zen. Was zählt, ist Geld. Um Geld zu ver­die­nen, ist man bereit, vieles zu tun. 
Stu­den­ti­sche Lebenspläne 
Man erkennt, dass es sich hier um eine selbst­be­wusste Genera­tion han­delt, die sich um ein bes­se­res Leben bemüht. Um dies zu rea­li­sie­ren, muss man jedoch in die Stadt ziehen. Alle wollen ein Stück von dem großen Kuchen bekom­men. Die Stadt ver­führt sie, saugt sie ein und lässt sie nicht mehr los. 
„Ich bin geld­gie­rig“, sagt Xuân und kichert. Die 25-jäh­rige Regie­rungs­sti­pen­dia­tin hat das große Los gezo­gen und wird dem­nächst an der renom­mier­ten Johns-Hop­kins-Uni­ver­si­tät in den USA stu­die­ren. Schon jetzt steht es für die Hanoie­rin fest, dass das Stu­dium nur zweit­ran­gig ist. An der ersten Stelle steht das Geld­ver­die­nen im Land der unbe­grenz­ten Mög­lich­kei­ten. Ihre Zukunft ist schon peni­bel geplant. In vier Jahren will sie gemein­sam mit ihrem in Frank­reich leben­den Freund ein Haus in Viet­nam kaufen. Mit 30 Jahren kommt dann die Heirat, was eigent­lich als spät gilt für eine viet­na­me­si­sche Frau. 
Ein Tag in Hanoi ver­läuft unglaub­lich schnell. Hier wird einem bewusst, dass Zeit in der Tat Geld bedeu­tet. Man kann diese chao­ti­sche Stadt wegen ihres Chaos‘ lieben und hassen. Genauso ist es auch mit der jungen viet­na­me­si­schen Genera­tion. Man ist ent­täuscht von ihrer mate­ria­lis­ti­schen Lebens­weise, und doch weiß man, dass sie eine unge­heure Wil­lens­kraft hat – und die Zukunft in ihren Händen liegt.