Willkommen im Morgen
[Zukunft] Das Berliner Studentenleben in hundert Jahren sieht sich mit völlig neuen Herausforderungen konfrontiert. Der Versuch einer Prognose.
In der Habelschwerdter Allee steht die Rostlaube auch noch im Jahr 2109. Sie sieht weiterhin rostig aus. Die Universität ist ein ruhiger Ort. Ein paar Studenten kommen noch hierher, doch hauptsächlich ist das einst belebte Hauptgebäude der Freien Universität eine japanische Touristenattraktion. Längst werden vor dem Otto-Suhr-Institut weder Pizza noch Burek verkauft, sondern Sushi oder „real German food“, eine Kartoffel ohne Quark, da sich in Marktforschungsumfragen ergab, dass Japaner Kräuterquark negativ beurteilen.
So stehen ständig 30 bis 70 Japaner vor der Bibliothek, die noch ehrfürchtig „The Brain“ genannt wird und halten ihre ganz persönlichen Eindrücke mit ihren 3D-Videocomputern fest. Besser verdienende Japaner geben mit ihren geruchsempfindlichen Aufnahmegeräten an, die auch für die Nase eine Atmosphäre einfangen. Die Bücher dürfen sie dabei zwar fotografieren, jedoch nicht mehr aus den Regalen nehmen, da diese, sofern sie den FU-Exzellenz-Stempel haben, als Kulturgut besonders geschützt lagern müssen.
Im Sausetempo zum Bildungstempel
Gleich neben der Philologischen Bibliothek befindet sich auch der Zugang zum „University-Train“. Um auf dem internationalen Markt konkurrenzfähig zu sein, wurden die Berliner Universitäten und die Universität Potsdam zusammengelegt. Die neue U‑Bahnlinie 417 führt von der Humboldt-Universität Unter den Linden innerhalb von vier Minuten zur Charité, innerhalb von 25 Minuten zum Universitätskomplex II Golm – für die Studenten, die noch persönlich in der Universität erscheinen.
Durch den internetgestützten Unterricht wurde die Anwesenheit größtenteils überflüssig, und so ist es mittlerweile gang und gäbe, der Vorlesung von zu Hause aus zu folgen. Diese Entwicklung wurde mit internationalen Fördermitteln stark forciert, weil so der Studentenaustausch wesentlich einfacher wurde: Ein Auslandssemester zu absolvieren, ohne dabei vor die Haustür zu treten, ist ohne Weiteres möglich. Besonders karrierebewusste Studenten absolvieren sogar zwei Auslandssemester gleichzeitig. Wer gleichzeitig an der Jiaotong-Universität Shanghai und an der Universidad Nacional de la Patagonia San Juan Bosco eingeschrieben ist, wirkt mutig, entschlossen und vor allem zielstrebig.
Da abgesehen von zwei kleinen Universitäten – in Marburg und Mosbach – überall Englisch gesprochen wird, nehmen die Studenten von ihren Auslandssemestern jedoch weniger Eindrücke mit als bei einem Tagesausflug nach Brandenburg. Marburg und Mosbach sind auch die einzigen Standorte, wo noch Philosophie, Kunstwissenschaft und Theologie gelehrt werden; international gelten diese Fächer als nicht wirtschaftstauglich genug.
Studentische Körper-Checks
Die Prüfungen werden in einheitlich gestalteten „Yes, you can“-Centern abgehalten. Um eines dieser Center im Universitätsgebäude zu betreten, sind zuerst diverse Kontrollräume zu passieren. Die Kontrollräume werden in „Equipment Checks“ und „Body Checks“ unterteilt. In den Equipment Checks müssen die Studenten jegliche Geräte abgeben. Da Handys mittlerweile unter der Zunge versteckt werden können, müssen sich die Studenten komplett entkleiden und eine Kontrolle aller Körperöffnungen über sich ergehen lassen.
In der zweiten Kontrolle werden den Prüfungskandidaten Blut‑, Speichel- und Ohrenschmalzproben entnommen, um sicherzustellen, dass der Student kein Ritalin oder ähnliche Wirkstoffe zu sich genommen hat. Da aufgrund der 2076 eingeführten Freihandelszone mit den USA deren deutlich liberalere Medikamentenverordnung in der EU übernommen wurde, ist der Kampf gegen das Gehirndoping zur zeitaufwändigsten Beschäftigung der Universitätsmitarbeiter geworden.
Andererseits gab 2097 der UdK-Präsident in einem vertraulichen Gespräch zu, dass er selbst nicht wisse, wie die Studenten ohne die Medikamente dem Leistungsdruck standhalten sollen. Drei der circa 4.000 Kameras, die in der Technischen Universität installiert sind, nahmen dieses Gespräch auf, und so wurde der Mitschnitt zu einem beliebten Video auf YouTube 6.0.
Belohnungssystem Bachelor
Zwar gibt es auch außerhalb der Universität Kritiker dieses Systems, die nichts von einem „Turbo-Studium“ halten, und auch die Kultusminister haben versprochen, sich mit dem System Bachelor auseinanderzusetzen, doch diese Maßnahmen wurden noch nicht ergriffen. Somit besteht weiterhin die dreijährige Regelstudienzeit. Um die Studenten „positiv zu motivieren“, hat die Regierung eingeführt, dass jeder, der seinen Bachelor bereits nach zwei Jahren macht, ein Fahrrad geschenkt bekommt.
Das Fahrrad benutzt allerdings keiner, weil die Straßen zu verschmutzt sind. Aber in besonders hippen Clubs werden Fahrräder gern an die Wand gehängt, und so freuen sich auch Wohngemeinschaften über dieses Dekorationselement.