Der Gang der Geschichte

[Streik] Ber­li­ner Stu­den­ten beset­zen die Unis mit mäßi­gem Erfolg. Poli­ti­ker zeigen Ver­ständ­nis, bewe­gen aber nichts.

„Der Bil­dungs­streik geht weiter“ und „HU und FU sind besetzt“ – so hallen die Rufe aus den Uni­ver­si­tä­ten am 11. Novem­ber 2009. Empörte Stu­den­ten hissen Banner in den gro­ßen Hör­sä­len, halten Voll­ver­samm­lun­gen ab und stel­len For­de­run­gen auf. So schnell, da sind sich die Strei­ken­den sicher, werden sie nicht klein bei­geben, dies­mal nicht.

Denn der Bil­dungs­streik, der im Novem­ber 2009 seinen Anfang nimmt, ist bereits der zweite in diesem Jahr. Schon im Sommer gingen in Berlin und ganz Deutsch­land Tau­sende Stu­den­ten auf die Straße, um für eine bes­sere Bil­dung zu demons­trie­ren. Bei den For­de­run­gen, die jetzt in besetz­ten Hör­sä­len arti­ku­liert werden, han­delt es sich also genau­ge­nom­men um neue „alte“ For­de­run­gen. Denn viel ist seit dem Sommer nicht pas­siert: „Die Poli­ti­ker haben sich alle auf unsere Seite geschla­gen“, beschwe­ren sich einige Beset­zer auf der ersten Voll­ver­samm­lung in der Hum­boldt-Uni. „Aber nur aus Image-Grün­den! Wirk­lich was getan hat nie­mand, die Ver­hält­nisse sind noch immer so mise­ra­bel wie im Sommer.“

Mit ihrer Unzu­frie­den­heit sind die Ber­li­ner Stu­den­ten nicht allein. Die Hoch­schul­be­set­zun­gen began­nen in Öster­reich, an der Uni Wien. Dort waren die Aus­lö­ser die Ein­füh­rung von Stu­di­en­ge­büh­ren und die Beschrän­kung des Hoch­schul­zu­gangs. Wie ein Lauf­feuer ver­brei­te­ten sich die Nach­rich­ten nach Deutsch­land und dann nach ganz Europa.

Beset­zungs­welle

Einige Tage später dann, am 17. Novem­ber, gehen die Stu­den­ten wieder demons­trie­ren, es sind ähn­lich viele wie im Sommer. Eine Masse um die 10.000 Men­schen schlän­gelt, quetscht und ergießt sich durch und über die Stra­ßen der Haupt­stadt. Vor dem Roten Rat­haus in Berlin sind die For­de­run­gen pla­ka­tiert: die Abschaf­fung von Stu­di­en­ge­büh­ren und NC-Fächern, die Über­ar­bei­tung des Bache­lor- und Mas­ter­sys­tems, mehr Mit­be­stim­mungs­rechte für Stu­die­rende und mehr effek­tive finan­zi­elle Bildungsförderung.

An den fol­gen­den Tagen werden auch die TU Berlin, die Alice-Salo­mon-Hoch­schule und die Beuth-Hoch­schule für Tech­nik in Berlin „besetzt“. Die Hoch­schul­lei­tun­gen drohen nur anfangs mit poli­zei­li­cher Räu­mung, schnell tole­rie­ren sie die Beset­zun­gen. Wieso auch nicht? Vielen der For­de­run­gen würden die Uni­prä­si­den­ten blind zustim­men. „Mehr Geld für Bil­dung“ wollen auch sie. Die Beset­zer gehen ihrer­seits ein paar Schritte auf ihre Uni­ver­si­tät zu: Es werden Sau­ber­keits- und Putz-AGs ins Leben geru­fen, das Rau­chen in den Hör­sä­len wird wäh­rend der Beset­zung ver­bo­ten, und bei den Kon­zer­ten und Partys achten die Beset­zer darauf, dass nichts kaputtgeht.

All­tags­ge­schäft „Streik“

Die Wochen ziehen ins Land. Große und kleine Aktio­nen berei­chern den Alltag in den besetz­ten Hör­sä­len. Es ent­wi­ckeln sich diverse Pro­jekt­grup­pen und regel­mä­ßige Voll­ver­samm­lun­gen, in denen For­de­run­gen legi­ti­miert und neue Ideen zur Besei­ti­gung der Bil­dungs­mi­sere gesam­melt werden. Alles steu­ert auf den 10. Dezem­ber zu; an dem Tag berät die Kul­tus­mi­nis­ter­kon­fe­renz in Bonn. Hier wollen die Stu­den­ten den Ver­ant­wort­li­chen die Mei­nung sagen, und auch aus Berlin fahren einige Busse voller moti­vier­ter Studis in die Stadt am Rhein.

Am Abend dann, als die Busse zurück­keh­ren, blickt man in müde und ent­täuschte Stu­den­ten­ge­sich­ter. „Wenn sie über Themen bera­ten haben, wurden unsere For­de­run­gen und Inter­es­sen nicht beach­tet“, beschwert sich einer der Pro­test­ler und spricht damit aus, was viele denken. Es läuft wie im Sommer: Poli­ti­ker geben vor, die Streiks gut zu finden, aber nie­mand will wirk­lich kon­kret werden. Es scheint kaum neue Bewe­gung zu geben. Das ein­zige erwäh­nens­werte Zuge­ständ­nis der Kul­tus­mi­nis­ter­kon­fe­renz lautet, die Bolo­gna-Reform zu über­den­ken. Doch das Zuge­ständ­nis ist keines, denn dieses Vor­ha­ben steht schon seit dem Sommer auf dem Plan.

Innere Kon­flikte

Hinter den Kulis­sen der Ber­li­ner Pro­teste bro­delt es der­weil. Je länger die Hör­saal-Beset­zun­gen andau­ern, desto mehr franst der Pro­test aus. Längst sind nicht mehr alle Stu­den­ten zufrie­den. Eine Gegen­be­we­gung heißt „Demo­kra­ti­scher Bil­dungs­streik für alle!“ Die hier orga­ni­sier­ten Stu­den­ten bekla­gen sich: „In den Voll­ver­samm­lun­gen wird mit hohlen Phra­sen wie ‚Kapi­ta­list‘ oder ‚Lob­by­ist‘ reagiert. Dabei sind auch wir für eine Beset­zung! Aber es kann nicht sein, dass der Bil­dungs­streik für Anti­ka­pi­ta­lis­mus-For­de­run­gen und den Kampf gegen den Welt­hun­ger instru­men­ta­li­siert wird.“

Die Beset­zer hin­ge­gen halten durch. An der FU, der HU und in Pots­dam wird in den Hör­sä­len Weih­nach­ten gefei­ert. Rühr­se­lige Bilder von Tan­nen­bäu­men und vega­nem Weih­nachts­schmaus werden gern von den Me­dien auf­ge­grif­fen. Auch nach Weih­nach­ten und Neu­jahr wei­chen die „Beset­zer“ nicht. Neben der Arbeit in ver­schie­de­nen Pro­jekt­grup­pen planen die Ber­li­ner Uni­ver­si­tä­ten mehr Koope­rationsarbeit, gemein­same Aktio­nen und führen zu ver­schie­den Themen Work­shops durch. Erste Erfolge gibt es bereits zu ver­mel­den: So sollen in Pots­dam und an der HU Anwe­sen­heits­kon­trol­len voll­stän­dig abge­schafft werden. Zur Reform der Bache­lor- und Master-Stu­di­en­gänge gibt es ers­te Arbeits­grup­pen, in denen Stu­den­ten kon­kret mit­ar­bei­ten können.

Wie es mit den Beset­zun­gen wei­ter­geht, ist hin­ge­gen unge­wiss: Den Stu­den­ten im Hör­saal 1 A der FU wird am 22. Januar ein ein­wö­chi­ges Haus­ver­bot auf­er­legt. Der FU-Kanz­ler erscheint am 23. Januar nicht zu einem Gespräch über die Zukunft der Streiks. Am 27. und 30. Januar finden wieder bun­des­weite Demons­tra­tio­nen statt, an denen nicht nur Stu­die­rende, son­dern auch Schü­ler und Arbeits­lose teil­neh­men. So will die Pro­test­be­we­gung neue Fahrt gewin­nen und sich bis zum Sommer fortsetzen.

Log­buch des Streiks

15.–19. Juni 2009
Beginn Bil­dungs­streik „Heißer Herbst“

Sommer 2009
Pro­teste ebben ab

22. Okto­ber 2009
Uni Wien besetzt

3. Novem­ber 2009
Fort­set­zung Bil­dungs­streik Uni Hei­del­berg
1. deut­sche Besetzung

4. Novem­ber 2009
Uni Pots­dam besetzt

11. Novem­ber 2009
FU und HU besetzt

12. Novem­ber 2009
TU besetzt

15. Novem­ber 2009
ASH besetzt

16. Novem­ber 2009
Beuth-Hoch­schule besetzt

17. Novem­ber 2009
bun­des­weite Demo

19. Novem­ber 2009
KHSB besetzt

23. Novem­ber 2009
TU been­det Besetzung

25. Novem­ber 2009
Beuth-Stu­den­ten erstel­len Forderungskatalog

30. Novem­ber 2009
erste Zuge­ständ­nisse des Aka­de­mi­schen Senats der FU

2. Dezem­ber 2009
Ev. FH Berlin besetzt

2. Dezem­ber 2009
ergeb­nis­lo­ses Tref­fen der Studis mit Sena­tor Zöllner

10. Dezem­ber 2009
„Kul­tus­mi­nis­ter Nach­sit­zen“ – Demons­tra­tion in Bonn

12. Dezem­ber 2009
FU-Prä­si­dent Lenzen kün­digt Abgang an

18. Dezem­ber 2009
Beginn Bil­dungs­streik-Kon­gress in Potsdam

22. Dezem­ber 2009
Uni Wien geräumt

31. Dezem­ber 2009
Beset­zer der HU, FU und Uni Pots­dam feiern im Audimax

5. Januar 2010
ASH-Stu­den­ten tref­fen sich mit Prorektor

8. Januar 2010
Gespräch mit dem FU-Kanzler

22. Januar 2010
Haus­ar­rest für FU-Besetzer

30. Januar 2010
bun­des­weite Demo in Frankfurt

5.–7. Februar 2010
Bun­des­wei­tes Ver­net­zungs­tref­fen in Bielefeld

Über Janine Noack (20 Artikel)
Janine studierte von 2009-2012 Geschichte, Politk und Soziologie an der HU Berlin und absolviert derzeit ihren Master in Modern European History an der Universität Cambridge.