Lust und Frust der Ferne
[Fernbeziehungen] Fernbeziehungen geben beiden Partnern die Chance auf ein eigenes Leben. Die wenige gemeinsame Zeit gewinnt dadurch an Wert.
In der Berliner WG fing alles an. Aus Mitbewohnern wurde schnell mehr. Vier Jahre sind Heiko und Thessa jetzt ein Paar. Man lebt und liebt auf 25 Quadratmetern. Seit zwei Monaten liegt ein bisschen mehr Raum zwischen beiden – rund 500 Kilometer. Denn die angehende Redakteurin Thessa ist für eine Volontariatstelle ins Rheinland gezogen. Absolvent Heiko ist in einer Berliner Kommunikationsagentur fündig geworden. Seitdem sieht sich das Paar jedes zweite Wochenende.
Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass jede achte Partnerschaft in einer Fernbeziehung lebt. Die tatsächliche Zahl sei allerdings kaum messbar, schreibt der Fernbeziehungsexperte Dr. Peter Wendl. Unter Akademikern sei das Phänomen besonders verbreitet. Über 25 Prozent leben zumindest zeitweise eine Liebe auf Distanz.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Paare studieren in verschiedenen Städten, ein Partner entscheidet sich für einen Auslandsaufenthalt, oder der erste Job nach dem Studium erfordert einen Ortswechsel. Nicht selten ist ein Erasmus-Jahr auch der Beginn einer Liebe auf Distanz. Die Tendenz steigt im Zeitalter von Internetbekanntschaften oder beruflich erforderter Mobilität.
Selbstverwirklichung
Entscheidet man sich für die Fernbeziehung, hat die Selbstverwirklichung Vorrang über Zweisamkeit. Ob gewollt, wie das freiwillige soziale Jahr im anderen Land, oder ungewollt, wie die Versetzung durch den Chef – viele Paare möchten trotz Beziehung die eigenen Pläne oder Träume verwirklichen. Es ist schwer, in der Partnerschaft die richtige Balance zwischen Individualität und Zweisamkeit zu finden.
Vor allem sinnsuchende Egofragen „Was will ich vom Leben?”, „Wie möchte ich mich beruflich entwickeln?” sind in der Partnerschaft nicht ohne Rücksicht auf den Partner zu verfolgen. Eine Fernbeziehung bietet die Möglichkeit, sich innerhalb der Partnerschaft leichter zu verwirklichen. Der Wechsel vom Studium in den Beruf, sich neu ordnen – dem 31-jährigen Heiko kommt die Distanz zur Freundin gerade recht.
Vorteile der Distanz
Für den Publizistik-Absolventen verläuft die Fernbeziehung bisher sehr angenehm. „Es gibt genauso viele Vor- und Nachteile wie damals, als wir noch zusammenwohnten”, berichtet er freimütig. Die „Enge” und das „ständige Sich-Aufeinander-Abstimmen” hat ihn in der Beziehung mitunter schon gestört. Jetzt kann er „endlich seinen Kram” machen, einen „eigenen Rhythmus entwickeln” und mehr „mit den Jungs abhängen.” Auch für Thessa bietet die Liebe auf Distanz die Freiheit, sich voll und ganz auf sich und die neue Herausforderung zu konzentrieren ohne Rücksicht auf den Beziehungsalltag nehmen zu müssen.
Die Zeit, die man sich sieht, sei immer sehr intensiv und schön. Mögliche Gefahren sieht der 31-Jährige dennoch. Die emotionale Nähe des Partners, insbesondere nach einem kleinen Streit oder einem schlechten Tag – sie fehlt. Die Euphorie über das unfreiwillige Quasi-Single-Dasein hat sich mittlerweile gelegt. Fremden Verlockungen zu widerstehen bei gleichzeitig fehlender körperlicher Nähe des Partners, ist weniger reizvoll, als anfänglich vermutet.
Die größte Herausforderung in der Fernbeziehung ist das Präsentsein und Teilhaben an den Erlebnissen des Partners. Heiko und Thessa fehlt der gemeinsame Alltag. „Man muss aufpassen, dass man nicht den Anschluss an das Leben des Anderen verliert”, berichtet Heiko. Beide machen unterschiedliche Erfahrungen unabhängig voneinander. Thessa schließt neue Freundschaften und muss sich in einer fremden Stadt zurechtfinden, Heiko ordnet seinen Alltag nach langer Zeit wieder allein. „Man sollte auf jeden Fall immer up to date sein”, findet er.
Missverständnisse vermeiden
Regelmäßige Telefonate am Abend, eine SMS zwischendurch oder die aktuelle Gefühlslage als Song via Facebook. Heiko und Thessa nutzen die ganze Bandbreite des kommunikativen Angebots. Es sind die Kleinigkeiten, mit denen sie versuchen, die Distanz zu überwinden. Streitereien vermeiden sie. „Man sieht sich nicht, und es kann schnell zu Missverständnissen kommen.” Laut dem amerikanischen Psychologen Gregory Guldner vom „Center for the Study of Long Distance Relationsships” halten Fernbeziehungen genauso lange wie klassische Beziehungen”, nämlich vier Jahre.
Heiko und Thessa wollen gemeinsam einsam noch anderthalb Jahre überstehen. Sie sind gewappnet gegen schlechte Zeiten, die langsam schwindende Euphorie über das Alleinsein, Kosten, die ins Unermessliche steigen und einsame Momente. Eine Alternative zu ihrem Lebensentwurf sehen beide trotzdem nicht. Denn verzichten auf den eigenen Weg will keiner. „Schließlich”, argumentiert der 31-Jährige, „kann ich auch nur zu zweit glücklich sein, wenn ich es alleine bin.”