Schatten über der Sonnenstadt

[Pres­se­frei­heit] Minsk ist eigent­lich gar nicht weit. Aber es kommt uns so weit weg vor. Der Alltag dort erscheint uns fremd. Das ist ein Grund, genauer hinzuschauen.

So viele Orte in unse­rer Nähe lassen uns aus Unkennt­nis kalt. Das Bil­der­kino im Kopf steht still oder lie­fert nur nega­tive Ste­reo­type. Ein sol­cher Ort ist Minsk, das Land dazu: Weiß­russ­land bzw. Bela­russ­land – also nicht wirk­lich weit weg. Als „die Son­nen­stadt der Träume” bezeich­net Artur Klinau den Ort. Im Gegen­satz zu dem bela­rus­si­schen Künst­ler und Publi­zis­ten wissen wir kaum etwas über diese Stadt.

Zu anders schei­nen uns die Kultur und Gesell­schaft von Weiß­russ­land. Viel­leicht ist ein Grund die man­gelnde Bericht­erstat­tung. Wer wusste schon von Oleg Bene­nin, einem lang­jäh­ri­gen weiß­rus­si­schen Jour­na­lis­ten, der am 3. Sep­tem­ber tot in seiner Woh­nung in der Nähe von Minsk auf­ge­fun­den wurde? Selbst­mord berich­tet die Staats­an­walt­schaft, Mord ver­mu­ten Regime­kri­ti­ker. Jour­na­lis­mus in Weiß­russ­land zu betrei­ben, ist kein ein­fa­ches Unter­fan­gen, von Pres­se­frei­heit kaum zu reden. Wel­chen Preis bezah­len die Men­schen für das Leben in der kom­mu­nis­ti­schen Utopie?

So weit vertraut

Ein Schritt aus dem Mins­ker Haupt­bahn­hof, und die eigene Geschichte ist nicht so weit ent­fernt, wie es sich manch­mal anfühlt. Deutsch­land feiert 20 Jahre deut­sche Ein­heit. Tau­send Kilo­me­ter öst­lich von Berlin gibt es ein Stück deut­sche Geschichte noch: das Leben in der Dik­ta­tur oder besser das Leben in der sozia­lis­ti­schen Insel Europas.

Es ist unheim­lich, wie sauber die Stadt ist. Das Zen­trums­ge­biet besitzt mehr Grün­flä­che als Berlin-Wann­see, und die großen, breit ange­leg­ten Bou­le­vards mit den unzäh­li­gen offe­nen Plät­zen erin­nern an die Frank­fur­ter Allee – nur zehn­fach so groß. Die Illu­sion von Frei­heit. Die Häu­ser­fas­sa­den sind reno­viert, kein Papier­schnip­sel liegt auf den Stra­ßen. Die Stadt ist steril. Keine Musi­ker, keine Bett­ler, keine Händ­ler an Häu­ser­ecken oder Metro­auf­gän­gen. Nie­mand trinkt oder isst auf den Stra­ßen, keine her­um­nör­geln­den alten Frauen oder betrun­ke­nen Obdach­lo­sen in der Stra­ßen­bahn. Unheim­lich. Was ver­steckt diese Stadt, die sich selbst als Ide­al­bild eines Ortes der „Glück­se­lig­keit” sieht?

Schnell weg

Svet­lana, Stu­den­tin der Lin­gu­is­ti­schen Uni­ver­si­tät in Minsk drückt es fol­gen­der­ma­ßen aus: „Ich lerne Spra­chen, damit ich irgend­wann hier weg kann.” Auf das „Warum?” gibt es keine ver­bale Ant­wort, aber viel­leicht liegt die Ant­wort auch auf der Hand. Der letzte Bei­trag zu der Situa­tion der Stu­die­ren­den in Weiß­russ­land ist in „Zeit Campus” vom Dezem­ber 2006 zu finden. Viel hat sich seit­dem nicht geändert.

Wenn Stu­die­rende auf die Straße gehen und demons­trie­ren, ver­lie­ren sie den Stu­di­en­platz und somit die Grund­lage für ihre Zukunft in Weiß­russ­land. Spricht man in der Uni­ver­si­tät oder auf der Straße die „bela­rus­si­sche Spra­che” ist es das selbe Spiel, erzählt eine andere Stu­den­tin: „Es wird ver­mu­tet, man gehöre der Oppo­si­tion an.” Tele­fo­nate werden abge­hört, legal ist das alles, aus „Sicher­heits­grün­den” sagt die Poli­tik. Die Akti­vi­tät im Inter­net ist streng kon­trol­liert. Aus­lands­se­mes­ter sind beliebt unter Stu­die­ren­den, aber rar. Sti­pen­di­en­för­de­run­gen exis­tie­ren von­sei­ten der EU, aber wirk­lich einen Platz zu bekom­men, ist schwie­rig. Baut Weiß­russ­land eine Mauer, oder sind wir es, die sich inner­lich vor schwie­ri­gen Rea­li­tä­ten vermauern?

Im „demo­kra­ti­schen und freien” Westen wissen wir kaum, was sich vor unse­rer Haus­tür abspielt. Weiß­russ­land grenzt öst­lich an die EU, der Zug aus Berlin braucht etwa 18 Stun­den und kostet weni­ger als eine ICE-Fahrt nach Köln. Keine große Ent­fer­nung könnte man meinen. Trotz­dem berich­ten die deut­schen Medien mehr über „Koran­schu­len in Indo­ne­sien” als über Luka­schen­kos Dau­er­prä­senz in der Poli­tik Weiß­russ­lands. Nächs­tes Jahr stehen in Minsk Wahlen an – viel­leicht ein Grund, die Scheu­klap­pen abzulegen.

Über Janine Noack (20 Artikel)
Janine studierte von 2009-2012 Geschichte, Politk und Soziologie an der HU Berlin und absolviert derzeit ihren Master in Modern European History an der Universität Cambridge.