Chancen im Chaos

[Bolo­gna] Mit großen Erwar­tun­gen ist die Bolo­gna-Reform gestar­tet. Dann ver­sank alles im Chaos, jeden­falls gefühlt. Der Wunsch­zet­tel für Ände­run­gen ist lang.

In einem geräu­mi­gen Alt­bau­büro der erzie­hungs­wis­sen­schaft­li­chen Fakul­tät der HU Berlin kämpft sich Prof. Dr. Heinz-Elmar Ten­orth durch die übli­chen Papier­sta­pel der Tuto­rien- und Prü­fungs­mo­da­li­tä­ten am Semes­ter­start. Der ehe­ma­lige Vize­prä­si­dent für Lehre und Stu­dium wirkt müde, die Umstel­lung von Diplom und Magis­ter auf Bache­lor und Master geht nicht so rei­bungs­los, wie viele sich das wün­schen. „Die Idee ist zukunfts­wei­send, aber die Umset­zung grenzt bis jetzt an uni­ver­si­tä­res Elend”, umreißt Ten­orth die Situa­tion. „In diesem Punkt stimme ich den Stu­die­ren­den in den Pro­tes­ten zu.”

Das ver­gan­gene Jahr war von unzäh­li­gen Auf­stän­den geprägt. Bil­dungs­strei­kende Stu­die­rende hatten meist „Bolo­gna” auf den Fahnen stehen. Das Schimpf­wort des Jahres – die all­ge­meine Stim­mungs­lage: Vorher war alles besser.

„Die Bolo­gna-Refor­men sind ein Zukunftskonzept”

Viele haben aber nur am Rand die eigent­li­chen Ziele von Bolo­gna mit­be­kom­men. Ganz oben auf der Wunsch­liste des Bolo­gna-Pro­zes­ses stehen Inter­na­tio­na­li­tät und kul­tu­rel­ler Aus­tausch. Als Haupt­ziele werden mehr Mobi­li­tät und die Ver­zah­nung des euro­päi­schen Hoch­schul­rau­mes the­ma­ti­siert. Stu­di­en­ab­schlüsse sollen all­ge­mein­gül­ti­ger und ver­ständ­li­cher werden. Ziel ist es, einen Über­blick zu bekom­men, was sich hinter einem Stu­di­en­gang wirk­lich ver­birgt. Abhilfe schaf­fen Bezeich­nun­gen wie „Bache­lor of Arts” und „Bache­lor of Science”.

Die Modu­la­ri­sie­rung soll sicher­stel­len, dass jeder Stu­die­rende ein fest­ge­leg­tes Wis­sens­ni­veau besitzt. Das Punk­te­sys­tem (ECTS) dient der stich­hal­ti­gen Fest­stel­lung von Stu­di­en­leis­tun­gen. Ein ein­heit­li­ches Sys­tem ver­ein­facht es, Leis­tun­gen ein­zu­schät­zen. Ein Stu­di­en­ort­wech­sel inner­halb Deutsch­lands oder in das euro­päi­sche Aus­land wird damit unpro­ble­ma­ti­scher. Außer­dem eröff­net eine euro­päi­sche Dimen­sion der Hoch­schul­aus­bil­dung bes­sere Mög­lich­kei­ten der Ver­net­zung in ver­schie­de­nen For­schungs­be­rei­chen. Das waren alles Ziele bei der Bologna-Reform.

Doch statt­des­sen: Volle Hör­saale, zu wenige Tuto­rien, eine gering­fü­gige Betreu­ung, hohe Kosten für Lehr­ma­te­ria­lien oder ein­fach nicht genü­gend Bücher in der Biblio­thek, ganz abge­se­hen von dem büro­kra­ti­schen Chaos. Laut Ten­orth resul­tie­ren die Pro­bleme daraus, dass die Umset­zung der Reform „zu wenig aus­fi­nan­ziert” sei. Der jet­zige Inha­ber des Lehr­stuhls für his­to­ri­sche Erzie­hungs­wis­sen­schaf­ten warnt trotz­dem vor unkon­struk­ti­ven Protesten.

„Da denken viele Stu­die­rende zu kurz-kritisch”

Viele Pro­blem­fel­der, die wäh­rend der Pro­teste ange­spro­chen wurden, fanden Zustim­mung unter den Leh­ren­den. Einige soll­ten jedoch hin­ter­fragt werden. Ein Bei­spiel ist die viel dis­ku­tierte Über­las­tung der Stu­die­ren­den durch den Bache­lor. Als „Buli­mie­stu­dium” wurde das neue System bezeich­net, sogar der Euro­päi­sche Gerichts­hof hat sich mit den Belan­gen der angeb­lich hoff­nungs­los über­las­te­ten Stu­die­ren­den beschäf­tigt. „Natur­wis­sen­schaft­ler wun­dern sich oft, wor­über sich die Geis­tes­wis­sen­schaft­ler beschwe­ren”, schmun­zelt Ten­orth über die For­de­run­gen nach Ent­las­tung und den Weg­fall von Prüfungen.

Viele Stu­die­rende wün­schen sich außer­dem das alte Diplom- und Magis­ter-System zurück. Auch in diesem Punkt warnt der ehe­ma­lige Vize­prä­si­dent für Lehre und Stu­dium vor nost­al­gi­schem Denken. „Ich hatte den Ein­druck, dass ich im Magis­ter nie etwas ande­res vor mir hatte als Anfän­ger, weil das Vor­wis­sen nicht über­schau­bar war”, erin­nert er sich. Viele Stu­die­rende schätz­ten am Magis­ter oder Diplom die großen Frei­hei­ten und Spiel­räume. Doch diese bergen auch Gefah­ren. Die Leh­ren­den wüss­ten nie, was Stu­die­rende an Semi­na­ren und Vor­le­sun­gen in der Ver­gan­gen­heit belegt haben, und oft war keine gemein­same tief­grün­dige Dis­kus­sion mög­lich. Ten­orth erwar­tet jetzt die span­nendste Lehr­zeit seiner Lauf­bahn – in den Semi­na­ren werde „ver­läss­lich” dis­ku­tiert, und durch die Modu­la­ri­sie­rung sei eine inten­sive Befas­sung mit einem The­men­kom­plex mög­lich. „Man lernt nicht nur die Theo­rien von Max Weber kennen – son­dern auch die Metho­den empi­ri­scher Sozialforschung.”

Sicher ist das Bache­lor­sys­tem über­ar­bei­tungs­wür­dig – es gilt aber: Das Beste draus machen! Ten­orth rät den Stu­die­ren­den „offen und inter­es­siert zu sein”. Das Stu­dium berge oft mehr Mög­lich­kei­ten als auf den ersten Blick sichtbar.