Zügig in die Gegenwart

II. Teil – Die Metro in St. Peters­burg ist ein täg­li­ches Zeug­nis ver­gan­ge­ner Zeiten. Anstatt sich an diesen fest­zu­klam­mern, nutzen die Russen ihre Ver­gan­gen­heit zum Sprung ins 21. Jahrhundert.

Die Metro in St. Petersburg Paläste für das Volk: Für Einheimische Alltag, für uns eine Augenweide. Foto: Jan Lindenau

Es ist früher Peters­bur­ger Vor­mit­tag, es nie­selt. Anna, Martin und ich warten auf den Bus, der uns durch Peters­burg schleu­sen wird. Anders kann man den Vor­gang nicht nennen, wenn man sich dazu ent­schließt, wäh­rend der Stoß­zei­ten mit einem Peters­bur­ger Bus am New­skij Pro­spekt zu fahren: Erst wird man ein­ge­saugt, und wenn man sich zwi­schen den Men­schen­men­gen ein gemüt­li­ches Plätz­chen ein­ge­rich­tet hat, muss man schon wieder aus­stei­gen. Die Fahrt kostet nur eine Hand­voll Klein­geld, span­nen­der ist der Weg, auf dem man sein Bus­ti­cket erhält. Anstatt beim Bus­fah­rer zu bezah­len, reicht man sein Geld durch viele Pas­sa­gier­hände zur Schaff­ne­rin am ande­ren Ende des Busses, die ent­wer­tete Fahr­karte erhält man dann auf dem selben Weg zurück.

Parallelwelt unter der Erde

Wäh­rend Anna an diesem Morgen zur Uni­ver­si­tät muss, erkun­den Martin und ich weiter den Nah­ver­kehr der Stadt. Und das heißt Metro fahren und Hal­te­stel­len besich­ti­gen. Die Züge fahren tags­über im Ein-bis-zwei-Minu­ten­takt, schaf­fen es trotz­dem über­füllt zu sein. Die alt­ehr­wür­di­gen Sta­tio­nen liegen teil­weise hun­dert Meter unter der Erde, kein Rei­se­füh­rer, der sie auf­grund ihrer präch­ti­gen Archi­tek­tur nicht die „Paläste für das Volk“ nennt. Jähr­lich werden hier rund 1,2 Mil­li­ar­den Fahr­gäste durch den Unter­grund gespült und für die meis­ten ist der Prunk zur Gewohn­heit gewor­den. BVG-ver­wöhnte Besu­cher dürfen jedoch ruhig große Augen krie­gen, wenn sie an einem Ende der Pusch­kin­s­kaja von der melan­cho­li­schen Statue des Poeten ange­schwie­gen werden, getränkt in Kronleuchterlicht.

Die Metro ist für die Russen mehr als ein Trans­port­mit­tel, die Sta­tio­nen, die von Anfang an auch als Not­bun­ker kon­zi­piert wurden, inspi­rie­ren in Russ­land die Sci­ence-Fic­tion-Welt. Der Schrift­stel­ler Dmitry Gluk­hovsky ver­wen­det die sowje­ti­schen Relikte in seinem Debüt­ro­man „Metro 2033“, um eine eigene Gesell­schaft unter der Erde nach einem Atom­krieg zu kre­ieren. Kopf­geld­jä­ger strei­fen hier durch Sta­tio­nen, die von zwie­lich­ti­gen Frak­tio­nen beherrscht werden. Seine Leser waren von diesem düster-apo­ka­lyp­ti­schen Zukunfts­bild so gefes­selt, dass sie selber began­nen, Fort­set­zungs­ro­mane zu schrei­ben. Diese füllen in rus­si­schen Buch­lä­den mitt­ler­weile ganze Regale.

Auf Augenhöhe mit dem Fortschritt

Als wir nach unse­rer Metro-Tour wieder in Annas Woh­nung ankom­men, grin­sen uns zwei Gesich­ter ent­ge­gen, die wir schon bei unse­rer Ankunft kurz gese­hen haben: Annas Mutter und ihre kleine Enke­lin. Annas Schwes­ter ist mit einem Briten ver­hei­ra­tet, die Kleine wird von ihnen bilin­gual auf­ge­zo­gen. Zwar ist Rus­sisch die Spra­che, die jeder in der Fami­lie spricht, das Eng­li­sche spielt den­noch eine Rolle: Anna war wäh­rend ihrer Schul­zeit ein Jahr lang in Texas, und auch die Mutter lernt jetzt par­al­lel mit der Klei­nen. Für diesen Zweck hat sie sich ein klei­nes rus­sisch-eng­li­sches Wör­ter­buch der unge­wöhn­li­che­ren Art zuge­legt: Bilder, welche die wich­tigs­ten Begriffe illus­trie­ren, werfen die Frage auf, ob es sich um ein Lehr­buch oder Satire han­delt. Unter „baden“ finde ich eine Kari­ka­tur von Gor­bat­schow oder Chrust­schow mit Spiel­zeug­boo­ten in der Wanne, unter „Eifer­sucht“ eine Frau mit ihrem nack­ten Gelieb­ten, der gerade vom Ehe­mann ersto­chen wird.

Über Vkon­takte, das rus­si­sche Äqui­va­lent zu Face­book, schreibt Anna einer Kom­mi­li­to­nin noch eine Nach­richt, dann über­gibt sie den Laptop mit Surf-Stick ihrer Mutter. Einen eige­nen Inter­net­an­schluss haben sie in der Kom­mu­nalka nicht. Auch die Mutter ist auf Vkon­takte regis­triert, es ist inter­es­sant zu beob­ach­ten, wie sie sich – mit der Lese­brille auf der Nase und mit rund 50 Jahren – wie selbst­ver­ständ­lich in dem sozia­len Netz­werk bewegt. Wenn meine Mutter nach alten Schul­ka­me­ra­den sucht, darf ich ihr dabei helfen, ein neues Pro­fil­bild hoch­zu­la­den, Annas Mutter kommt alleine zurecht.

Eine Amerikanerin im Osten

In einer Kneipe mit rus­si­schem Bier und güns­ti­gen Prei­sen tref­fen wir Laura. Sie kommt aus Ame­rika, kennt Martin und Anna über einen gemein­sa­men Freund und hat sich für ein Semes­ter in St. Peters­burg ein­ge­schrie­ben, um ihr Rus­sisch auf­zu­po­lie­ren. Sie wohnt bei einer Gast­fa­mi­lie, zahlt denen eine ordent­li­che Miete, kann sich dafür jeden Morgen auf ein herz­haf­tes Früh­stück freuen. Da wir noch einige Tage blei­ben und Laura mit uns die Stadt erkun­den will, ver­arb­re­den wir uns für den nächs­ten Tag. Nach eini­gen gemüt­li­chen Stun­den bre­chen wir auf.

Wie in Berlin habe ich auch in Peters­burg nachts keine Angst, alleine auf der Straße zu wan­dern. Dass mir diese Por­tion kind­li­cher Nai­vi­tät anhaf­tet, lässt mich zwar zum einen unbe­schwerte Abende erle­ben, am Ende meiner Reise wird sich das aller­dings noch in einer uner­freu­li­chen Bekannt­schaft nie­der­schla­gen. Anna besteht jeden­falls darauf, dass wir Laura sicher zu ihr nach Hause brin­gen, ein wei­te­rer Spa­zier­gang vom einen Ende des New­skijs Pro­spekts zum ande­ren für tou­ris­ten­ge­plagte Füße.

Als wir nach einer guten Stunde heim­kom­men, ist Annas Mutter immer noch wach. Wäh­rend wir in der ersten Nacht noch zu dritt im Zimmer geschla­fen haben, über­nach­tet die Mutter nun zusam­men mit Anna im großen Ehebett.

Zwei Nächte haben wir nun bei Anna ver­bracht, ihre lieb­ge­won­nene Couch muss ich jetzt als Schlaf­stätte auf­ge­ben. Morgen würden wir uns nach einer neuen Bleibe umschauen. Auf uns wartet ein neues Zimmer, neue Men­schen und eine neue Geschichte.

Die Reise geht weiter. Auf unse­rer Web­site Stadt​stu​denten​.de schreibt Jan weiter über seine Erleb­nisse, Erfah­rungen und Beob­ach­tungen aus Russland.
Über Jan Lindenau (25 Artikel)
kann sich nicht daran erinnern, jemals gesagt zu haben, dass er „irgendwas mit Medien machen will“. Ist trotzdem irgendwie Chefredakteur der spree geworden. Große Leidenschaft für Sprache, Literatur, Russland - und ja, Medien.

2 Kommentare zu Zügig in die Gegenwart

  1. Wann hast du denn Nachts auf dem Heim­weg mal eins aufs Maul bekom­men? Das weiß ich ja gar nicht.

  2. Jan Lindenau // 19. Januar 2012 um 16:23 //

    Erfährst Du im letz­ten Teil der Serie ;)

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