Gedanken eines Unerfahrenen

Ab ins Ausland? © Angelika Schaefer

Tau­sende Stu­die­rende zieht es jedes Jahr für ein oder zwei Semes­ter ins Aus­land. Hätte ich auch gehen sollen? Eine Debatte mit mir selbst.

Kers­ten, Hallo!

Hier auch. Habe gerade mit deiner Schwester
in Gro­nin­gen telefoniert.

Hm.

Willst du nicht auch noch mal ins Ausland?

So oder so ähn­lich began­nen viele Tele­fo­nate mit meiner Mutter wäh­rend meines Stu­di­ums. Immer die­selbe Leier. Und das Tra­gi­sche daran ist: Rück­bli­ckend hätte ich die Chance wohl wirk­lich nutzen sollen.

Natür­lich ver­reise ich gerne, ja. Ich habe auch schon viele Länder bereist, die nicht zu den typi­schen Urlaubs­län­dern zählen, ins­be­son­dere in Ost­eu­ropa. Länder in denen Spra­chen gespro­chen werden, von denen ich bis heute kein Wort ver­stehe. Doch warum habe ich nie den Schritt gewagt, für län­gere Zeit mein Geburts­land zu verlassen?

War es die Angst davor, in eine fremde Stadt zu kommen? Fremde Men­schen ken­nen­zu­ler­nen? Eine Spra­che nicht zu beherr­schen, sich nicht mit­tei­len zu können? Auf jede dieser Fragen gibt es eigent­lich nur eine Ant­wort: Nein. Was also ist der Grund?

Für mich selbst und auf Nach­frage ande­rer hatte ich immer das glei­che Argu­ment parat: Warum sollte ich Deut­sche Lite­ra­tur in einem ande­ren Land stu­die­ren als in Deutsch­land? Die Qua­li­tät des Stu­di­ums kann nur dar­un­ter leiden. Das Argu­ment zieht, denn es ent­behrt nicht einer gewis­sen Logik.

Doch ist die impli­zite Frage, auf die ich mir und ande­ren so immer die­selbe Ant­wort gab, denn die rich­tige? Geht es darum qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­ger zu stu­die­ren? Für Stu­die­rende der Anglis­tik, Sla­wis­tik, Roma­nis­tik, Skan­di­na­vis­tik und so weiter, mag das durch­aus zutref­fen. Nehmen wir ein­fach das Kli­schee des Eras­mus-Stu­die­ren­den (pars pro toto), das sicher nicht nur in meinem Kopf exis­tiert. Oft hat dieses ste­reo­type Bild nicht viel mit Stu­die­ren zu tun. Party, Sex, Reisen. Das sind die Voka­beln, die mit dem Aus­lands­stu­dium in Ver­bin­dung kommen.

Neben­bei alibi­mä­ßig einen, viel­leicht zwei Kurse besu­chen. Letzt­lich ist und bleibt es ein Kli­schee, doch wie jedes birgt es ein wenig Wahr­heit in sich und sicher­lich gibt es genug Eras­mus-Stu­die­rende, die genau diesem Ste­reo­typ ent­spre­chen. Ich habe sie ken­nen­ge­lernt. Ein­ge­brannt hat sich dieses Bild durch die Auf­fäl­lig­keit dieser Eras­mus­ler. Wer wild feiert und sich auf Eras­mus­par­tys her­um­treibt, schreibt sich in die Erin­ne­rung von mehr Men­schen ein, als jemand, der im stil­len Käm­mer­lein Stu­di­en­in­halte wälzt und ver­sucht, sich durch seine Sprach­kurse zu boxen.

Doch egal, die Frage ist nicht, was der durch­schnitt­li­che Aus­lands­stu­die­rende so treibt, son­dern warum ich ver­dammt noch­mal nicht ins Aus­land gegan­gen bin. Eigent­lich hätte mein Argu­ment mir selbst irgend­wann absurd vor­kom­men müssen, denn es gab in mir immer eine gewisse Bewun­de­rung für Men­schen, die von einem Tag auf den ande­ren ihr Aus­lands­stu­dium begon­nen haben. Nach Moskau, Istan­bul, Paris, Sibi­rien oder Süd­ame­rika auf­ge­bro­chen sind. Sie alle sind irgend­wie zurecht­ge­kom­men. Und was bleibt, sind Geschich­ten, die sie immer wieder erzäh­len. Nicht alle Geschich­ten sind schön: schlechte Unter­kunft, Pro­bleme Kon­takte zu knüp­fen, Über­fälle, Depres­sio­nen – auch das kann Teil eines Aus­lands­stu­di­ums sein. Doch im Gros ist denen, die aus dem Aus­lands­stu­dium zurück­kom­men gemein, dass sie auch Jahre später noch Sätze begin­nen mit „Damals als ich in … war“ Oft ist es nur ein halbes Jahr oder weni­ger, das man sich ins kalte Wasser stürzt, doch scheint es ein Erfah­rungs­schatz zu sein, aus dem man lange schöpft. Meine Urlaubs­er­fah­run­gen, die kaum länger als drei Wochen andau­er­ten, hätten mir dies ein­drück­lich zeigen sollen, denn selbst von so kurzer Zeit bleibt so vieles.

»Warum bin ich verdammt nochmal nicht ins Ausland gegangen?«

Kehren wir die Betrach­tung noch einmal um. Ver­glei­che ich schlicht, wie ich im Durch­schnitt Tou­ris­ten in Berlin wahr­nehme und wie ich Eras­mus­stu­die­rende wahr­ge­nom­men habe, ergibt sich eine Ein­sicht: Als Rei­sen­der, als Tou­rist ist man auf der Durch­reise, es geht um den kurzen Moment, den Über­fluss der neuen Ein­drü­cke, doch ist es eben nur die Ober­flä­che, die man erfährt. Der ‚Zustand‘ Tou­rist hat eine Unruhe inne. Einen tem­po­rä­ren aber festen Wohn­sitz in einer frem­den Stadt zu haben, sich so ein­zu­rich­ten, dass man nicht dar­über nach­den­ken muss, wo man seine Lebens­mit­tel ein­kauft, seinen Alltag also zu auto­ma­ti­sie­ren und zu ritua­li­sie­ren, schafft die Mög­lich­keit, die Umge­bung anders wahr­zu­neh­men. Es bringt eine gewisse Ruhe. Man hat Zeit Kon­takte auf­zu­bauen, weil man Men­schen öfter wieder trifft, anstatt nur einen ein­zi­gen Abend mit ihnen zu ver­brin­gen oder sie flüch­tig auf der Straße anzu­spre­chen. Man geht Wege immer wieder, kommt an die glei­chen Orte und fängt an, sie mit Geschich­ten zu ver­bin­den. Es ent­steht die Mög­lich­keit, etwas über Regel­mä­ßig­kei­ten zu erfah­ren, den ober­fläch­li­chen Moment zu über­win­den, weil der Zeit­raum der Beob­ach­tung ein län­ge­rer wird.

Warum schreibe ich das, wenn ich nie im Aus­land gelebt habe? Es ist das Bild, das sich abs­trakt in meinem Kopf gebil­det hat durch die Berichte ande­rer. Es ent­behrt daher des Details. Doch kann ich dieses abs­trakte Bild gut ver­ste­hen. Es deckt sich mit den Erfah­run­gen, die ich nach meinem Umzug nach Berlin gemacht habe. Zumin­dest bilde ich mir ein, dass der Tape­ten­wech­sel von nord­deut­scher Klein­stadt nach Berlin ähn­li­che Aspekte birgt. Und da ich Ver­wandte in Berlin habe, war ich auch oft zu Besuch, als eine Art Tourist.

Alle waren im Aus­land, wieso also ich nicht? Ich habe es doch auch nach Berlin geschafft. Die drei Fragen, die ich anfangs mit Nein beant­wor­tet habe: »Hatte ich Angst davor in eine fremde Stadt zu kommen?«, »Fremde Men­schen ken­nen­zu­ler­nen?«, »Eine Spra­che nicht zu beherr­schen, sich also nicht mit­tei­len zu können?«, sind letzt­lich wohl die Ant­wort. Denn für jede ein­zelne ist die Ant­wort auch rück­bli­ckend: Nein. Doch für alle zusam­men kann ich mir selbst wohl nur die Ant­wort geben: Ich war zu feige und fühlte mich über­for­dert. Hätte ich mir diese Tat­sa­che selbst bewusst gemacht, anstatt sie mit Pseudo-Gegen­ar­gu­men­ten zu über­de­cken, wäre ich wohl anders an die Sache herangegangen.

Und heute? Ich wäre um ein paar wich­tige Erfah­run­gen, um ein paar Geschich­ten rei­cher, würde eine Fremd­spra­che besser beherr­schen, ich hätte mehr freund­schaft­li­che Kon­takte im Aus­land und in meinem Lebens­lauf gäbe es ein zusätz­li­ches Argu­ment mich ein­zu­stel­len. Sicher­lich habe ich in der Zeit, die ich nicht im Aus­land war auch wich­tige und span­nende Erfah­run­gen gemacht. Das Gegen­teil wäre in Berlin auch fast ein Wunder. Trotz alle­dem bleibt der herbe Nach­ge­schmack einer ver­pass­ten Chance. Denn so ein­fach wie im Stu­dium wird es einem nie wieder gemacht, im Aus­land zu leben. Der Aus­lands­auf­ent­halt wird finan­ziert und unter­stützt, es werden kos­ten­lose Sprach­kurse gebo­ten und Orte geschaf­fen, andere kennenzulernen.

Aus meiner Erfah­rung der Nicht­er­fah­rung heraus einen Impe­ra­tiv zu ent­wi­ckeln, hat wohl einen gewis­sen Pathos: Seid nicht feige, geht ins Aus­land, erfahrt eine andere Kultur und lernt euch selbst neu kennen. Aber das sind die Gedan­ken eines Unerfahrenen.