Gedanken eines Unerfahrenen
Tausende Studierende zieht es jedes Jahr für ein oder zwei Semester ins Ausland. Hätte ich auch gehen sollen? Eine Debatte mit mir selbst.
Kersten, Hallo!
Hier auch. Habe gerade mit deiner Schwester
in Groningen telefoniert.
Hm.
Willst du nicht auch noch mal ins Ausland?
So oder so ähnlich begannen viele Telefonate mit meiner Mutter während meines Studiums. Immer dieselbe Leier. Und das Tragische daran ist: Rückblickend hätte ich die Chance wohl wirklich nutzen sollen.
Natürlich verreise ich gerne, ja. Ich habe auch schon viele Länder bereist, die nicht zu den typischen Urlaubsländern zählen, insbesondere in Osteuropa. Länder in denen Sprachen gesprochen werden, von denen ich bis heute kein Wort verstehe. Doch warum habe ich nie den Schritt gewagt, für längere Zeit mein Geburtsland zu verlassen?
War es die Angst davor, in eine fremde Stadt zu kommen? Fremde Menschen kennenzulernen? Eine Sprache nicht zu beherrschen, sich nicht mitteilen zu können? Auf jede dieser Fragen gibt es eigentlich nur eine Antwort: Nein. Was also ist der Grund?
Für mich selbst und auf Nachfrage anderer hatte ich immer das gleiche Argument parat: Warum sollte ich Deutsche Literatur in einem anderen Land studieren als in Deutschland? Die Qualität des Studiums kann nur darunter leiden. Das Argument zieht, denn es entbehrt nicht einer gewissen Logik.
Doch ist die implizite Frage, auf die ich mir und anderen so immer dieselbe Antwort gab, denn die richtige? Geht es darum qualitativ hochwertiger zu studieren? Für Studierende der Anglistik, Slawistik, Romanistik, Skandinavistik und so weiter, mag das durchaus zutreffen. Nehmen wir einfach das Klischee des Erasmus-Studierenden (pars pro toto), das sicher nicht nur in meinem Kopf existiert. Oft hat dieses stereotype Bild nicht viel mit Studieren zu tun. Party, Sex, Reisen. Das sind die Vokabeln, die mit dem Auslandsstudium in Verbindung kommen.
Nebenbei alibimäßig einen, vielleicht zwei Kurse besuchen. Letztlich ist und bleibt es ein Klischee, doch wie jedes birgt es ein wenig Wahrheit in sich und sicherlich gibt es genug Erasmus-Studierende, die genau diesem Stereotyp entsprechen. Ich habe sie kennengelernt. Eingebrannt hat sich dieses Bild durch die Auffälligkeit dieser Erasmusler. Wer wild feiert und sich auf Erasmuspartys herumtreibt, schreibt sich in die Erinnerung von mehr Menschen ein, als jemand, der im stillen Kämmerlein Studieninhalte wälzt und versucht, sich durch seine Sprachkurse zu boxen.
Doch egal, die Frage ist nicht, was der durchschnittliche Auslandsstudierende so treibt, sondern warum ich verdammt nochmal nicht ins Ausland gegangen bin. Eigentlich hätte mein Argument mir selbst irgendwann absurd vorkommen müssen, denn es gab in mir immer eine gewisse Bewunderung für Menschen, die von einem Tag auf den anderen ihr Auslandsstudium begonnen haben. Nach Moskau, Istanbul, Paris, Sibirien oder Südamerika aufgebrochen sind. Sie alle sind irgendwie zurechtgekommen. Und was bleibt, sind Geschichten, die sie immer wieder erzählen. Nicht alle Geschichten sind schön: schlechte Unterkunft, Probleme Kontakte zu knüpfen, Überfälle, Depressionen – auch das kann Teil eines Auslandsstudiums sein. Doch im Gros ist denen, die aus dem Auslandsstudium zurückkommen gemein, dass sie auch Jahre später noch Sätze beginnen mit „Damals als ich in … war“ Oft ist es nur ein halbes Jahr oder weniger, das man sich ins kalte Wasser stürzt, doch scheint es ein Erfahrungsschatz zu sein, aus dem man lange schöpft. Meine Urlaubserfahrungen, die kaum länger als drei Wochen andauerten, hätten mir dies eindrücklich zeigen sollen, denn selbst von so kurzer Zeit bleibt so vieles.
»Warum bin ich verdammt nochmal nicht ins Ausland gegangen?«
Kehren wir die Betrachtung noch einmal um. Vergleiche ich schlicht, wie ich im Durchschnitt Touristen in Berlin wahrnehme und wie ich Erasmusstudierende wahrgenommen habe, ergibt sich eine Einsicht: Als Reisender, als Tourist ist man auf der Durchreise, es geht um den kurzen Moment, den Überfluss der neuen Eindrücke, doch ist es eben nur die Oberfläche, die man erfährt. Der ‚Zustand‘ Tourist hat eine Unruhe inne. Einen temporären aber festen Wohnsitz in einer fremden Stadt zu haben, sich so einzurichten, dass man nicht darüber nachdenken muss, wo man seine Lebensmittel einkauft, seinen Alltag also zu automatisieren und zu ritualisieren, schafft die Möglichkeit, die Umgebung anders wahrzunehmen. Es bringt eine gewisse Ruhe. Man hat Zeit Kontakte aufzubauen, weil man Menschen öfter wieder trifft, anstatt nur einen einzigen Abend mit ihnen zu verbringen oder sie flüchtig auf der Straße anzusprechen. Man geht Wege immer wieder, kommt an die gleichen Orte und fängt an, sie mit Geschichten zu verbinden. Es entsteht die Möglichkeit, etwas über Regelmäßigkeiten zu erfahren, den oberflächlichen Moment zu überwinden, weil der Zeitraum der Beobachtung ein längerer wird.
Warum schreibe ich das, wenn ich nie im Ausland gelebt habe? Es ist das Bild, das sich abstrakt in meinem Kopf gebildet hat durch die Berichte anderer. Es entbehrt daher des Details. Doch kann ich dieses abstrakte Bild gut verstehen. Es deckt sich mit den Erfahrungen, die ich nach meinem Umzug nach Berlin gemacht habe. Zumindest bilde ich mir ein, dass der Tapetenwechsel von norddeutscher Kleinstadt nach Berlin ähnliche Aspekte birgt. Und da ich Verwandte in Berlin habe, war ich auch oft zu Besuch, als eine Art Tourist.
Alle waren im Ausland, wieso also ich nicht? Ich habe es doch auch nach Berlin geschafft. Die drei Fragen, die ich anfangs mit Nein beantwortet habe: »Hatte ich Angst davor in eine fremde Stadt zu kommen?«, »Fremde Menschen kennenzulernen?«, »Eine Sprache nicht zu beherrschen, sich also nicht mitteilen zu können?«, sind letztlich wohl die Antwort. Denn für jede einzelne ist die Antwort auch rückblickend: Nein. Doch für alle zusammen kann ich mir selbst wohl nur die Antwort geben: Ich war zu feige und fühlte mich überfordert. Hätte ich mir diese Tatsache selbst bewusst gemacht, anstatt sie mit Pseudo-Gegenargumenten zu überdecken, wäre ich wohl anders an die Sache herangegangen.
Und heute? Ich wäre um ein paar wichtige Erfahrungen, um ein paar Geschichten reicher, würde eine Fremdsprache besser beherrschen, ich hätte mehr freundschaftliche Kontakte im Ausland und in meinem Lebenslauf gäbe es ein zusätzliches Argument mich einzustellen. Sicherlich habe ich in der Zeit, die ich nicht im Ausland war auch wichtige und spannende Erfahrungen gemacht. Das Gegenteil wäre in Berlin auch fast ein Wunder. Trotz alledem bleibt der herbe Nachgeschmack einer verpassten Chance. Denn so einfach wie im Studium wird es einem nie wieder gemacht, im Ausland zu leben. Der Auslandsaufenthalt wird finanziert und unterstützt, es werden kostenlose Sprachkurse geboten und Orte geschaffen, andere kennenzulernen.
Aus meiner Erfahrung der Nichterfahrung heraus einen Imperativ zu entwickeln, hat wohl einen gewissen Pathos: Seid nicht feige, geht ins Ausland, erfahrt eine andere Kultur und lernt euch selbst neu kennen. Aber das sind die Gedanken eines Unerfahrenen.