Sich bilden — das ist wie aufwachen

Etwas ist im Gange. Ara­bi­scher Früh­ling, Casper rappt vom per­sön­li­chen Kol­laps und immer mehr Stim­men werden laut, die das System anzwei­feln. Es wird wieder die Frage laut: Was zählt? 

Der Kapi­ta­lis­mus läuft sich gerade leer, ver­zich­ten will man auf kapi­ta­lis­ti­sches Grund­gut noch nicht voll­kom­men, aber der Sinn des Lebens wird dort nicht gesucht. Abseits von spi­ri­tu­el­len Lebens­be­ra­tungs- Büchern und Mana­ger­bü­chern, die ihren Weg zum Glück preis­ge­ben, kann man nun das Büch­lein „Wie wollen wir leben?“ von einem Ber­li­ner Alt­be­kann­ten lesen. Peter Bieri ist einem brei­ten Publi­kum als der Schrift­stel­ler Pascal Mer­cier bekannt. Seine ehe­ma­li­gen Stu­den­ten kennen ihn als Prof. Bieri. Er lehrte bis 2007 Phi­lo­so­phie an der Freien Uni­ver­si­tät Berlin. Sein letz­ter großer Wurf war „Das Hand­werk der Frei­heit“, der Vor­läu­fer zu diesem Buch. Dort setzte er aus­ein­an­der, warum man frei sein kann auch – oder gerade weil –, der Mensch durch sein Umfeld geprägt ist. Dies­mal stellt er sich die Frage, wie wir leben wollen. Auf den 80 Seiten Text­teil geht er nicht ins Detail, viel­mehr gibt er Denk­an­stöße. Was ist ein selbst­be­stimm­tes Leben? Muss man dazu frei von Sys­te­men sein, oder liegt es nicht viel­mehr an mir selbst, indem „ich Ein­fluß auf meine Innen­welt nehme, auf die Dimen­sio­nen meines Den­kens, Wol­lens und Erle­bens, aus der heraus sich meine Hand­lun­gen erge­ben“? Bieri ent­spannt daraus ein Gespräch, und wirk­lich ent­stand das Büch­lein aus drei Vor­le­sun­gen an der Aka­de­mie Graz. Man kommt zu der Frage, wie man sich als Person mit freien Gedan­ken ver­ste­hen kann und wel­cher Grad von Selbst­kennt­nis dazu nötig ist. Nur wenn wir uns selbst ver­ste­hen und unser Denken und Han­deln ein­ord­nen können, in unse­rer innere Land­karte, dann können wir aus uns andere Per­so­nen ver­ste­hen. „Bil­dung ist die wache, kennt­nis­rei­che und kri­ti­sche Aneig­nung von Kultur. Es ist dieser Prozeß der Aneig­nung, in dem sich jemand eine kul­tu­relle Iden­ti­tät ver­schafft.“ Bieris These: Das Bilden geschieht auch durch das Lesen von Geschich­ten, dem Spiel mit ande­ren Lebens­läu­fen. Auch mit dem Schrei­ben, dem Aus­pro­bie­ren ande­rer Iden­ti­tä­ten. Laut der UNESCO ist die Zahl der Analpha­be­ten seit dem Jahr 2000 von etwa 860 Mil­lio­nen bis 2011 um mehr als 60 Mil­lio­nen gesun­ken. Wieder einige Men­schen mehr, die sich über Face­book und Twit­ter Gehör ver­schaf­fen. Wieder einige Men­schen mehr, die ihre Ängste und Hoff­nun­gen aus­drü­cken können. Wieder einige Men­schen mehr, die ihren Platz in der Welt reflek­tie­ren können.

Peter Bieri: Wie wollen wir leben?

93 Seiten Resi­denz Verlag 2011

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Über Christiane Kürschner (89 Artikel)
2004 bis 2010 Studium (Philosophie, Deutsche Philologie, AVL) an der FU, HU und Uni Bern. 2007 bis 2010 Fachjournalistikstudium. PR-Volontariat bis Juni 2011. Seit Juli 2011 freie Autorin und Texterin. Ihre Leidenschaften: Bücher, Fotografie und Essen- und in allem viel Farben. www.frollein-wortstark.de
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