Jemanden in die Wüste schicken…

Coven­try ist keine schöne Stadt”, steht im Rei­se­füh­rer über Coven­try geschrie­ben und erste Zwei­fel an meiner Mis­sion wurden wach. Oder am Rei­se­füh­rer? Was war das für eine Idee, weg von zu Hause, von Freun­den, vom Alltag, vom Gewohn­ten und Bekann­ten. Hinein in, ja was? In keine schöne Stadt?

Auf­ge­regt war ich, als ich im Sep­tem­ber 2002 Berlin ver­ließ, um Eng­land für mich zu ent­de­cken. Ste­reo­ty­pen kannte ich, Geschich­ten über das eng­li­sche Wetter, das Insel­tum, das merk­wür­dige Essen, die schlech­ten Weine, der tro­ckene Humor, der hohe Alko­hol­kon­sum, die falsch befah­rene Stra­ßen­seite; all das war mir bekannt. Nun ja, es bewahr­hei­tete sich nicht alles…

Coven­try liegt zen­tral im Herzen Eng­lands, in den West Mid­lands, und der erste Ein­druck lässt einem an seiner Wahl zwei­feln, denn tat­säch­lich ist Coven­try alles andere als eine schöne Stadt. Viel Beton und Platte domi­nie­ren das Stadt­bild, die Folgen des zwei­ten Welt­krie­ges und Hit­lers “Coven­try­sie­ren” sind auch heute noch unüber­seh­bar. Die Innen­stadt besteht aus einem kom­plet­ten alt­mo­di­schen Neubau, der als ein rie­si­ges Shop­ping Center genutzt wird, und um diesen Kern herum führt eine nach ame­ri­ka­ni­schen Muster über­di­men­sio­nal aus­ge­baute Auto­bahn Nur außer­halb des Stadt­kerns findet man die alten typi­schen eng­li­schen Rei­hen­häu­ser aus rotem Back­stein. Man zwei­felt an der eng­li­schen Archi­tek­tur. Die Uni­ver­sity of War­wick liegt ein wenig außer­halb Coventry’s, was man schon am Namen erken­nen kann. Zwar liegt War­wick gute 10 Meilen ent­fernt, aber man rühmt sich doch lieber mit dem klei­nen schö­nen und wohl­ha­ben­den Städt­chen als mit der zer­bomb­ten und schlecht wie­der­auf­ge­bau­ten Indus­trie­stadt Coven­try. Und ange­sichts der uni­ver­si­tä­ren Aus­stat­tung lohnt sich dieser Bezug auch, denn schon nach weni­gen Sekun­den auf dem Campus ver­liert man den schlech­ten städ­ti­schen Ein­druck. Getreu dem Motto ‚Gut betreut ist besser stu­diert‘ hin­ter­las­sen die hohen Stu­di­en­ge­büh­ren in puncto Lehre, Kurs­grö­ßen und Dozen­ten ihre Spuren.

Ein viel­fäl­ti­ges Kurs­an­ge­bot und Grup­pen, die nicht mehr als 15 Teil­neh­mer über­schrei­ten, stel­len exzel­lente Bedin­gun­gen dar. Freund­li­che und stets antreff­bare Dozen­ten sowie eine groß­zü­gige Biblio­thek (mit groß­ar­ti­ger Video­ab­tei­lung) runden dieses Bild ab und ver­deut­li­chen, dass Stu­den­ten hier im Gegen­satz zu Deutsch­land als Kunden betrach­tet werden, denen man etwas bieten muss. Dieses Renom­mee zieht ins­ge­samt 15000 Eng­län­der aus allen Teilen der Insel plus etwa 3500 Aus­tausch­stu­den­ten an die Uni­ver­sity of War­wick. Über Vor- und Nach­teile des zu Deutsch­land unter­schied­li­chen Stu­di­en­sys­tems lässt sich an ande­rer Stelle gut strei­ten, hier soll nur gesagt werden, dass die ange­nehme Arbeits­at­mo­sphäre auf der einen Seite Effek­ti­vi­tät begüns­tigt, ande­rer­seits ange­sichts der jungen 18-jäh­ri­gen Stu­den­ten und den kurzen schnel­len Stu­di­en­zei­ten manch­mal tie­fer­ge­hende Kennt­nisse und

Erfah­rung fehlen. Inter­es­sant ist es allemal.

Zu Beginn schien es, als ob die gesamte Uni den Aus­tausch­stu­den­ten zu Füßen lag. Eine eigens für die “Neuen Aus­län­der” ver­an­stal­tete Ori­en­ta­ti­ons-Woche vor dem eigent­li­chen Tri­mes­ter­start mobi­li­sierte hilfs­be­reite Mit­ar­bei­ter und Stu­den­ten und bot auf jede sich bie­tende Frage eine Ant­wort. Man war betreut. So auch beim nächs­ten Stich­punkt. Woh­nungs­pro­bleme gibt es für Aus­tausch­stu­den­ten kaum, da man nicht den Stress des Suchens hat. Die Uni stellt jedem Stu­den­ten ein Wohn­heims­zim­mer auf dem Campus oder in klei­ne­ren Häu­sern in Coven­try oder Leming­ton Spa, das schon per e‑Mail im Voraus orga­ni­siert worden ist, so dass man dies­be­züg­lich eigent­lich keine Pro­bleme erwar­ten kann. Nun ja, eigent­lich. Von der Din-Norm abwei­chende Kör­per­maße soll­ten sich bei der vor­he­ri­gen Abspra­che als “kör­per­lich Behin­dert” ein­stu­fen, denn sonst gibt es kein großes Bett. Ansons­ten unter­schei­den sich die Zimmer nur nach der Lage der Woh­nun­gen in der Stadt und auf dem Campus.

Aber keine Lösung ohne Haken. Die eng­li­schen Preise sind hor­rend und leider nicht mit dem deut­schen Woh­nungs­markt zu ver­glei­chen. Dem kleinste Porte­mon­naie bieten man für etwa 320 Euro ein 8 m² klein­gro­ßes Zimmer an, den grö­ße­ren für dem­entspre­chend mehr Geld auch dem­entspre­chend mehr Lebens­raum. Die Wohn­qua­li­tät ist aller­dings im All­ge­mei­nem eher beschei­den, muss man doch das kom­plette Küchen­in­te­ri­eur mit­brin­gen und bei seinen Wg-Genos­sen auf eine güns­tige Zutei­lung durch die Uni hoffen. Der kos­ten­lose Inter­net­an­schluß der Uni­ver­si­tät per DSL-Stand­lei­tung hebt wie­derum den Kom­fort, wird einem so die Kom­mu­ni­ka­tion nach Hause nahezu per­fekt ein­fach gemacht. Aller­dings ist diese Tech­nik momen­tan nur auf dem Campus vor­han­den; an ande­ren Lösun­gen in den Städ­ten wird gearbeitet.

Nach­dem also der Einzug rei­bungs­los ver­lief war es an der Zeit, eng­li­sches Uni­le­ben ein­zu­at­men und mein neues Lebens­zen­trum ken­nen­zu­ler­nen. Das Cam­pus­ge­lände. Es war weni­ger die anfäng­li­che Streb­sam­keit als mehr der uni­ver­si­täre Aufbau, der mich zum Her­um­streu­nen antrieb. Super­markt, Bank, Rei­se­büro, Ein­rich­tungs­lä­den, Post­amt, Copy-Shop, Sou­ve­nir­la­den, Sport­cen­ter, Schwimm­bad, Theater‑, Kon­gress- und Kino­säle und diverse Bars, Pubs und Clubs boten neben den uni­ver­si­tä­ren Ein­rich­tun­gen eine klein­städ­ti­sche Infra­struk­tur und das Flair einer Stu­den­ten­stadt. Zusätz­lich werden von seiten der Uni aus unglaub­lich viele fast schon nicht mehr zu durch­schau­ende Socie­ties ange­bo­ten, die von allen erdenk­li­chen Sport­ar­ten über kul­tu­relle Gemein­schaf­ten eine rie­sige Palette an Frei­zeit­an­ge­bo­ten abde­cken. Natür­lich bietet auch Coven­try mit Diskos und unzäh­li­gen Pubs viel Abwechs­lung zum Uni­all­tag, doch wird der Campus schnell zum eigent­li­chen Wohn­zim­mer. Wer arbei­tet soll auch feiern. Und in diesem Metier sind die Eng­län­der wahre Meis­ter. Schon am späten Nach­mit­tag fingen die ersten zu trin­ken an und spä­tes­ten um sieben waren die Pubs mit dem bier­se­li­gen Völk­chen gut besucht. Unge­wöhn­lich bei all den näch­ti­gen Akti­vi­tä­ten war nur die leider tra­di­tio­nelle Sperr­stunde um elf für Pubs — für Ber­li­ner Ver­hält­nisse undenk­bar. Alter­na­ti­ven muss­ten her; und ließen sich zu genüge finden. Von Karaoke-Bars, die hinter Schloss und Riegel weiter mach­ten über Pri­vat­par­ties der Eras­mus-Gemein­schaft, gefei­ert wurde en masse. Eine gute Zeit stand an.

Und so hatte der Rei­se­füh­rer im gewis­sen Sinne recht. Eine schöne Stadt ist Coven­try wahr­lich nicht. Und auch die Über­set­zung des deut­schen Spruchs, jeman­den in die Wüste zu schi­cken, könnte im Eng­li­schen nicht ein­drucks­vol­ler sein als jeman­den ein “go to Coven­try” hinter her zuwer­fen, gleicht die Atmo­sphäre bei­zei­ten wahr­lich der einer Wüste. Obwohl, der Ver­gleich hinkt, denn mit Ver­laub, ich war noch nie in der Wüste. Aber so stelle ich sie mir vor. Und doch, es war eine ange­nehme Wüste, voll mit wun­der­schö­nen Momen­ten, denn wie schon der kleine Prinz, so erfuhr auch ich, das in der Wüste Blumen und Freund­schaf­ten wach­sen können.