Unterwegs in Russland

I. Teil – Wer als Stu­dent in Russ­land lebt, bewegt sich in einem Span­nungs­feld zwi­schen West und Ost. Die jungen Men­schen suchen nach einer neuen Identität.

Braut im Brautkleid in Russland Nach der Heirat stellen sich Frauen die Frage nach Kind oder Karriere. In Russland fällt die Antwort oft gleich aus. - Foto: Jan Lindenau

Es ist der 6. Sep­tem­ber, der Air-Berlin-Flie­ger landet in der Peters­bur­ger Ein­flug­schneise. Vor mir und meinem Rei­se­part­ner Martin liegen drei Wochen Russ­land-Destil­lat. Für ihn ist es eine Aus­lands­reise, für mich eine Expe­di­tion zur eige­nen Iden­ti­tät. Die Mama Russin, der Papa gebür­ti­ger Ossi, aber geleb­ter Schwabe – Welten, die sich im Mikro­kos­mos Fami­lie häufig reiben, häufig lie­be­voll ergän­zen, immer span­nend blei­ben. Doch kann man ein Volk, eine Men­ta­li­tät ver­ste­hen? Die Men­schen, die ich in den nächs­ten Wochen ken­nen­ler­nen sollte, würden es zeigen.

Ein Zimmer für die ganze Familie

Anna treffe ich an diesem son­ni­gen Spät­herbst­tag vor einer U‑Bahn- Sta­tion in Sankt Peters­burg. Sie ist 20 Jahre alt, stu­diert Musik, spielt Cello. Anna wohnt mit ihren Eltern in einem Zimmer einer Kom­mu­nalka, der rus­si­schen Gemein­schafts­woh­nung, und nimmt uns für zwei Nächte bei sich auf. So kusche­lig wie gedacht wird es nicht: Ihr Vater arbei­tet die nächs­ten Tage außer­halb, die Mutter über­nach­tet bei Annas älte­rer Schwes­ter mit Toch­ter. Ein Raum für eine Fami­lie, und dann kommen noch die deut­schen Gäste dazu? Bevor eine Mit­mie­te­rin sich wieder in ihr Zimmer ein­schließt, wirft sie mir noch einen übel­ge­sinn­ten Blick zu; meine Sym­pa­thien für die nächs­ten Tage sind verteilt.

Strei­tig­kei­ten gibt es zwar in jeder Woh­nung, im rus­si­schen Äqui­va­lent zu den west­li­chen WGs jedoch ein wenig häu­fi­ger – allein durch die grö­ßere Zahl an Mit­be­woh­nern, die man sich nicht aus­su­chen konnte. Auch in der Woh­nung von Anna köchelt seit langer Zeit ein Streit vor sich hin. Mal wird der fal­sche Tisch in der Küche benutzt, dann liegt auf einmal eine fremde Zahn­bürste auf der Wasch­ma­schine. Auch das all­abend­li­che Cello- Spiel von Anna scheint hier nur uns zu erfreuen.

Ein strebsamer Abend

Ihr Ehr­geiz ist Annas bemer­kens­wer­tes­ter Cha­rak­ter­punkt: Wenn sie ihr Deutsch ver­bes­sern möchte, lotst sie uns in den nächs­ten Buch­la­den, damit wir eine Stunde über das geeig­nete Lern­buch phi­lo­so­phie­ren. Wäh­rend Martin und ich danach um die Häuser ziehen, arbei­tet sie schon einmal die ersten Kapi­tel durch. An unse­rem ersten Abend lässt sie jedoch Bücher und Cello liegen und führt uns durch ihr Peters­burg. Wir kaufen Käse und Brot, Wein im Tetra­pack. In Restau­rants und ein­hei­mi­sche Fast-Food-Filia­len geht Anna mit ihren Freun­den selten: Das Essen ist rus­sisch, die Preise euro­pä­isch. Lang­sam ver­schwin­det die Herbst­sonne am Hori­zont, wir begin­nen unse­ren Spa­zier­lauf durch Sankt Peters­burg. Wir wan­dern den New­skij-Pro­spekt ent­lang, die Fla­nier­meile der Stadt. Alleine fühlt man sich hier nicht: Die Jugend zieht es in diesen letz­ten warmen Tagen des Jahres in Scha­ren auf die Straße. Erst nach einer guten Stunde finden wir eine freie Bank für unser Pick­nick, direkt vor dem Win­ter­pa­last. Auf den ande­ren Sitz­ge­le­gen­hei­ten türmen sich innein­an­der ver­schlun­gene Pär­chen und schaf­fen sich hier die pri­va­ten Räume, die sie zu Hause nicht haben – mitten in der Öffentlichkeit.

Ein fremder Mann im Haus? Aufgepasst, Heiratskandidat!

Wer Spaß haben möchte, macht dies nicht in den sprich­wört­li­chen vier Wänden, denn mehr sind es meis­tens wirk­lich nicht, und die teilt man sich mit dem Rest der Fami­lie. Bringt man als junge Frau einen Mann mit zu sich, zwit­schern es die Vögel ins Eltern­haus: Auf­ge­passt, Hei­rats­kan­di­dat. Tat­säch­lich werde ich auf meiner Reise fast so viele junge Braut­paare sehen wie Trink­sprü­che hören.

Doch warum bindet man sich heut­zu­tage als Frau in Russ­land? Bild­hübsch, intel­li­gent und gut aus­ge­bil­det sind sie, in Deutsch­land würde man erwar­ten, dass sie jetzt vor dieser einen Frage stehen: Kar­riere oder Fami­lie? Hier ist das nicht nach­voll­zieh­bar. Nicht, weil sie nicht auf den Gedan­ken kommen würden. Son­dern weil sie für ihre Arbeit nicht ihr Wer­te­sys­tem über den Haufen werfen. Nach der Schule oder Uni­ver­si­tät stehen Kind und Kegel im Vor­der­grund, die Arbeit ist höchs­tens Mittel zum Zweck, nicht Lebens­in­halt. Dann ver­wun­dert auch nicht, dass Google den Such­be­griff „Olig­ar­chin“ für einen Tipp­feh­ler hält.

Doch ist das nun chau­vi­nis­ti­sche Kopf­wä­sche oder doch die rus­si­sche Men­ta­li­tät? Die Frei­heit, allein mit sich selbst – oder die Gren­zen und Gebor­gen­heit eines festen Sozi­al­ge­fü­ges. Nach­voll­zieh­bar ist das nicht immer. So lernte ich gleich am Anfang meiner Reise einen wich­ti­gen Punkt: Wenn der deut­sche Kopf seinen Maß­stab an die rus­si­sche Seele anlegt, wird er sie zwar ver­mes­sen können. Ver­ste­hen wird er sie so nicht.

Die Reise hat erst begon­nen. Auf unse­rer Web­site Stadtstudenten.de schreibt Jan weiter über seine Erleb­nisse, Erfah­run­gen und Beob­ach­tun­gen aus Russland.

Über Jan Lindenau (25 Artikel)
kann sich nicht daran erinnern, jemals gesagt zu haben, dass er „irgendwas mit Medien machen will“. Ist trotzdem irgendwie Chefredakteur der spree geworden. Große Leidenschaft für Sprache, Literatur, Russland - und ja, Medien.

1 Kommentar zu Unterwegs in Russland

  1. Ich mein da ist zu Teil die rus­si­sche Men­ta­li­tät “schuld” … Ist ja nichts schlim­mes, wenn die so leben. Jeder ist seines Glü­ckes Schmied!! Und wenn es denen passt, wieso nicht?? :-)

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