Amerikanisches Selbstverständnis
„Obama ist gleichsam der erste kosmopolitische Präsident der USA“, fasst Manfred Henningsen seine Erkenntnisse in dem dicht geschriebenen Buch „Der Mythos Amerika“ zusammen.
Denn Obama ist von „Geburt an mit der multikulturellen und multiethnischen Komplexität aufgewachsen, welche die moderne Welt auszeichnet.“ Sein Vater stammt aus Kenia, mit seiner Mutter, einer US-Amerikanerin, geht er als Kind nach Indonesien, bevor sie nach einigen Jahren nach Hawaii zurückkehren. Dort hatten sich Obamas Eltern kennen gelernt, als Hawaii noch der einzige Bundesstaat war, in dem Ehen zwischen Schwarzen und Weißen erlaubt war.
Mit diesem biografischen Hintergrund wird Obama als 44. Präsident der Vereinigten Staaten zu einer Symbolfigur für ein neues Amerika, dass seine Geschichte aufarbeiten und akzeptieren muss: Obama „ist die lebende Verkörperung einer amerikanischen Hoffnung, die es immer gegeben hat, die jetzt aber die Chance hat, sich vom Schutt einer mehr als zweihundertjährigen Last zu befreien.“
Damit schließt der Autor den historischen Ausflug, der bei Kolumbus’ Entdeckung der Neuen Welt begann und bei den aktuellen Entwicklungen endet: „Der Mythos Amerika, der zweihundert Jahre lang die [intlink id=“658” type=“post”]USA[/intlink] mit einer bestimmten Sinnerzählung versorgt hat, ist dabei, sich selbst zu entzaubern und durch ein politisches Selbstverständnis ersetzt zu werden, in dem Strategien des guten und gerechten Lebens für Amerikaner jeder Herkunft entwickelt werden.“
Henningsen konzentriert sich in seiner kritischen Auseinandersetzung auf den Umgang der Kolonisten mit der Urbevölkerung und der Sklaverei. Dabei wird deutlich, wie tief dieser wunde Punkt der amerikanischen Ideengeschichte liegt. Erst 2005 macht der Wirbelsturm Katrina, so Henningsen, auf die überwältigende schwarze Armut aufmerksam: „Die Welt sah eine Gesellschaft, die sich noch immer weigerte, die Wirklichkeit ihrer Verwerfungen zu sehen.“
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Obama wird 2009 der erste schwarze Präsident der USA, die Bevölkerung feiert den 200. Geburtstag von Abraham Lincoln. Dem 16. Präsidenten wird die Beendigung der Sklaverei zugesprochen. Er musste während des US-amerikanischen Bürgerkriegs zwischen den fortschrittlichen Nordstaaten und den Südstaaten vermitteln, wo die Sklaverei ein wichtiger Wirtschaftsfaktor war. Georg Schild relativiert Lincolns Rolle in seinem Buch „Abraham Lincoln – Eine politische Biografie“: „Er wurde nicht mit dem Versprechen die Sklaverei zu beseitigen zum Präsidenten gewählt, sondern sah sich erst während des Krieges in die Rolle des Sklavenbefreiers gedrängt.“
Lincolns politische Karriere wird durch das übergeordnete Ziel bestimmt, die Union der Vereinigten Staaten um jeden Preis zu erhalten – wobei die Beendigung der Sklaverei nur ein positives Nebenprodukt war. In detaillierten Ausführungen beschreibt Schild die politische und wirtschaftliche Situation in den Nord- und Südstaaten des 19. Jahrhunderts, die durch die Sklaverei-Problematik geprägt ist. Deutlich wird in den Auswertungen des historischen Materials durch den Tübinger Geschichtsprofessor vor allem eines: Die Beendigung der Sklaverei ist keineswegs das Produkt des unbedingten Willens der weißen US-Bevölkerung des 19. Jahrhunderts, und ein schwarzer Präsident ist auch im 21. Jahrhundert keine Selbstverständlichkeit.
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