Widerstand auf neuer Ebene
Schön, dass wir drüber geredet haben. Die Bologna-Konferenz beurteilt die Situation etwas milder als die protestierenden Studierenden. Auch der Berliner Bildungsstreik ist nach monatelangen Protestaktionen in eine neue Phase eingetreten.
Vom 11. bis 12. März 2010 trafen sich die Bildungsminister 46 europäischer Staaten in Wien und Budapest zur 6. Bologna-Folge-Konferenz, um die zehnjährige Bologna-Reform zu diskutieren und ihr neuen Anschub zu geben. Fazit der Veranstaltung war: Es muss etwas verändert werden. Vor allem die deutschen Universitäten müssen ihre Reformumsetzungen dringend nachbessern. „Die am Bologna-Prozess beteiligten Regierungen haben auf die Bildungsproteste des vergangenen Jahres reagiert und Mängel bei der Umsetzung der Reform der Studiengänge in einigen Ländern zugegeben“, sagt Andreas Keller, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
Proteste verhallen
Unter dem Motto „Bologna Burns“ begleiteten europäischen Studenten die Konferenz eine Woche mit Gegenaktivitäten. Die Anzahl der Aktivisten wird auf 3.500 bis 10.000 geschätzt. Am Donnerstag wurde den angereisten Ministern mit einer Blockade der Zugang zur Hofburg verwehrt. Damit sie wissen, was eine Zugangsbeschränkung sei, so die Bologna-Gegner auf ihrer Website.
Trotz der einstimmigen Einsicht der Konferenz-Teilnehmer sieht es danach aus, dass die Reform der Reform wie Spülwasser nichtssagend versickern wird. Genauso wie die Proteste. Die mediale Ruhe nach der Konferenz verdeutlicht den Mangel an tatsächlichen Ergebnissen. Die Bestandsaufnahme der Situation und Probleme fand diplomatischere Worte für die in den wochenlangen Protesten benannten Nöte. Ob die Länder die Empfehlungen der Bologna-Konferenz auch umsetzen, wird sich zeigen. Ankündigungen über geforderte Kurswechsel sind bislang jedenfalls ausgeblieben.
Umdenken in Berlin
In Berlin ist der studentische Widerstand nun von Sitzbarrikaden auf wöchentliche Treffen und kleine AGs umgestiegen. Am 14. Februar wurde nach etwa drei Monaten der besetzte Hörsaal an der FU geräumt. Die Studenten wurden laut eigener Aussage „unter Gewaltanwendung von Polizisten aus der Universität getragen und vorübergehend festgenommen“. Nun warten die Studenten auf die Neuwahl des FU-Präsidenten. Die Kandidaten für das Amt stellen sich am 31. März im Akademischen Senat vor. Die Streikaktivisten fordern auf ihrer Website „zahlreiches Erscheinen und kritische Fragen“.
An der HU hält laut Medienberichten ein idealistischer Student als einer der letzten dem Protest die Stange, der eigentlich keiner mehr ist. Der 28-jährige Focault-Fan will seine Besetzerfunktion nicht aufgeben und vertritt die HU weiterhin bei Protest-Meetings. Die Leute sind nach Hause gegangen und treffen sich lieber wöchentlich auf ein Glas Bier und diskutieren dort ihre Ideen und Pläne. So geht der Protest nun leise weiter. Auch wenn die Medien schon einige Wochen nicht mehr auf eine Streik-Berichterstattung versessen sind, soll es mit großen Aktionen auch einen Bildungsstreik 2010 geben. In Nordrhein-Westfalen soll eine Aktionswoche vom 19. bis 23. April stattfinden. Ob Berlin sich beteiligt, wird zur Zeit diskutiert. Die nächste bundesweite Demo ist für den 9. Juni anberaumt.
Krise nutzen
Für die meisten markiert die Bologna-Reform einen Wechsel vom humboldtschen Bildungsideal zu einem pragmatischen Wissenserwerb. Seit 200 Jahren gilt die Einheit von Forschung und Lehre als hehres Ziel der universitären Ausbildung. Studierende sollen durch eigenständiges Forschen zu Erkenntnissen gelangen und diese weiterentwickeln. Lernen und praktische Anwendung sind eng miteinander verzahnt und bedingen einander.
In seiner Bestandsaufnahme „Tatort Universität – Vom Versagen deutscher Hochschulen und ihrer Rettung“ stellt Wolf Wagner die aktuelle Situation den bildungshistorischen Wurzeln und Entwicklungen gegenüber. Momentan heben Bachelor und Master die gegenseitige Durchdringung von Lehre und Forschung auf und verteilen Lernen und Anwenden auf zwei Phasen: Studium und die Zeit danach. Praktische Semester vertiefen selten das Studium, sondern beweisen lediglich, dass Gelerntes praktisch anwendbar ist. So entwickeln sich junge Menschen mit Potenzial nur zu Fachidioten, die nicht flexibel genug im Kopf sind, um innovative Ideen haben zu können. Wissenschaft und Lehre versagen auf ganzer Linie. Die momentanen Missstände kann man laut Wagner nutzen, um die Reform kreativ umzusetzen.
Mutig sein
Für Wagner ist es konsequent, die Trennung zwischen Universitäten und Fachhochschulen abzuschaffen. Relevante Unterschiede gebe es kaum noch. Standesdünkel und Bildungseitelkeiten würden aber vielerorten notwendige Veränderungen verhindern und seien rückwärtsgewandt.
Dagegen benötigen Hochschulen eine Vision für die Zukunft. Wagner schlägt beispielsweise einen vierjährigen Bachelor vor, der ein Kreativjahr beinhaltet. Damit sollen Studenten die Inhalte ihres Fachs und andere Studiengänge kennen und voneinander unterscheiden lernen. Verstärkt soll es in späteren Semestern eigene Projekte unter Anleitung von Lehrenden geben. Der Master diene dann dem Einüben des eigenständigen Forschens.
Laut Wagner benötigen Studenten mehr Freiräume und weniger Kontrolle. Ganz im Sinne des humboldtschen Bildungsideals sollte der Mensch sich entwickeln dürfen und dabei Unterstützung erhalten. Unter dem Druck der Reformierung wurde aus dem Bachelor jedoch ein Abfragemarathon.
Wagner fordert von den Hochschulen, nicht nur ihren Bildungsauftrag, sondern auch ihren Ausbildungsauftrag ernstzunehmen. Dazu muss man mehr können, als Fakten für Klausuren auswendig zu lernen. Kreativität ist jedoch in den gegenwärtigen Studienordnungen nicht vorgesehen.
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