“A Historical Chance”
Die Aufstände in den Maghreb-Staaten haben Diktatoren zu Fall gebracht. Ähnliche Strukturen finden sich auch in Osteuropa. Kann sich Gleiches beispielsweise in Aserbaidschan wiederholen?
Die Aufstände in den Maghreb-Staaten haben in den letzen Monaten gezeigt, was Demonstrationen auslösen können: den Fall von Diktatoren. Aber nicht nur Länder in Nordafrika werden von Militärregimen und Diktaturen regiert – ähnliche Strukturen finden sich auch in Osteuropa. Zum Beispiel in Aserbaidschan. Kann es sich dort wiederholen?
Am 17. April 2011 läuft ein 5‑jähriges Mädchen durch die Straßen von Baku und schreit: “Freiheit für Aserbaidschan”. Einige Minuten später werden Mutter und Kind von der Polizei festgenommen. An diesem Tag werden noch 65 weitere Menschen verhaftet. Sie alle nahmen an einer Demonstration in Baku teil — organisiert von der Opposition gegen die Regierung des Präsidenten Ilham Aliyev.
Seit dem Tod seines Vaters 2003 regiert Ilham Aliyev diktatorisch das Land. Wahlmanipulation und Korruption — Aserbaidschan gilt als eines der korruptesten Länder der Welt — gehören zum Regierungsalltag. In den letzten Monaten gab es immer wieder kleine Demonstrationen auf den Straßen Bakus, jedoch nie mit mehr als 300 Teilnehmenden. Die fast ausschließlich jungen Protestierenden fordern die Achtung der Menschenrechte und den Kampf gegen Korruption und Unterdrückung. Doch selbst diese kleinen, fast ausschließlich friedlichen Proteste werden von der Regierung niedergeschlagen. Das schwächt die sowieso schon angeschlagene Opposition.
Bei den Parlamentswahlen 2010 wurde das erste Mal seit der Unabhängigkeit 1991 kein einziges Mitglied der Oppositionsparteien „Musavat“ und „Volksfront“ in das Parlament gewählt. Die Regierungspartei von Ilham Aliyev hingegen erreichte die absolute Mehrheit. Auch wenn Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) die Wahlfälschung bestätigen, kann die Opposition nicht gegen das Wahlergebnis vorgehen. Dazu kommt, dass die Mitgliedszahlen der Oppositionsparteien rapide sinken. Es fehlt an finanziellen Ressourcen, nennenswerter Unterstützung aus dem Ausland und nicht zuletzt am Glauben der aserbaidschanischen Bürger.
Auch Emin Milli engagiert sich in seinem Heimatland gegen Korruption und für Menschenrechte und Jugendbeteiligung.Der 30-Jährige wurde 2008 festgenommen und zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. Ein satirisches Video, in dem er und der Aktivist Adnan Hajizade die aserbaidschanische Regierung kritisierten, lieferte den Anlass für seine Festnahme. Seit November 2010 ist er wieder frei und aktiv. „Ich bin kein politischer Aktivist, ich sage nur was ich denke”, betont er.
Emin hat keine Angst mehr. Er weiß, dass er mittlerweile genug internationale Aufmerksamkeit bekommen hat um nicht so schnell wieder festgenommen zu werden. Und er weiß auch, dass viele Menschen in Aserbaidschan unzufrieden sind. Aber die Angst vor den Konsequenzen ist zu groß, kaum jemand will ein Risiko für die eigene Existenz eingehen.
„Ich glaube, Menschen können andere mitreißen und für eine Idee begeistern. Es liegt etwas in der Luft, aber der richtige Zeitpunkt ist noch nicht gekommen“, entgegnet er auf die Frage, ob Proteste wie in den Maghreb- Staaten in Aserbaidschan zu erwarten sind.
Neben der Angst der Menschen gibt es weitere Hindernisse. Emin sagt, dass ein freies Medium in Aserbaidschan oder im Kaukasus fehlt, welches Al Jazeeras Rolle spielen kann. Dadurch mangelt es den Menschen an Informationen und Raum für politische Diskussionen. Selbst über die Ereignisse in Ägypten und Tunesien wurde in den aserbaidschanischen Medien kaum berichtet. Außerdem nutzen nur 300.000 der über neun Millionen Aserbaidschaner soziale Netzwerke im Internet.
„Ich denke immer an die Idee 1918 — 2018. 1918 hatten wir einen demokratischen Umschwung ohne die Hilfe von neuen Medien, ohne die EU, ohne Wirtschaftswachstum, das ist ein Symbol für die neue Generation. Wir werden es erst recht schaffen, 100 Jahre später. Wir haben eine historische Chance”, fügt Emin optimistisch hinzu.
Ein Aufstand der Größenordnung wie in den Staaten Nordafrikas wird in Aserbaidschan in nächster Zeit wohl nicht zu erwarten sein. Aber die nächsten Präsidentschaftswahlen stehen im Frühjahr 2013 an – vielleicht nutzt die Regierung ihre „historische Chance“ auf eine Reformpolitik einfach selbst.