Sexgöttin im Bücherwald

Ausrangiert: Also tauscht Hannah es lieber gegen ein neues Buch.© Jan Lindenau

Kein Weih­nach­ten ohne miss­lun­gene Geschenke. In der Absicht uns eine Freude zu machen, grei­fen unsere Lieben hin und wieder ganz schön dane­ben. Zumin­dest für unge­wollte Bücher gibt es aber eine Lösung: Hannah hat sich für euch in Berlin auf die Suche nach ori­gi­nel­len Bücher­tausch­pro­jek­ten gemacht.

Bücher geschenkt zu bekom­men kann eigent­lich nur schief gehen. Kennt der andere unse­ren Geschmack, haben wir das Buch meis­tens schon. Ver­sucht er es mit einem Schuss ins Blaue, endet unsere Lek­türe meist schon nach dem Klap­pen­text. Und selbst im besten Fall gilt: Einmal gele­sen ver­schwin­det das Buch für immer in den Tiefen unse­res Bücher­re­gals. Wohin also mit all den Platz­hal­tern? Klar, ver­kau­fen geht immer, doch wer Weih­nachts­ge­schenke zu Geld macht, kann auch gleich Gold bei der AfD kaufen. Eine nicht kom­mer­zi­elle Alter­na­tive ist der Bücher­tausch. Das Prin­zip ist simpel: Getauscht wird Buch gegen Buch, nicht Buch gegen Geld. Doch wie gut funk­tio­niert das? Stößt man beim Bücher­tausch tat­säch­lich auf inter­es­sante Bücher oder lagern Men­schen hier nur ihre Schund­li­te­ra­tur aus? Wird hier wirk­lich getauscht oder schnap­pen sich ein paar Früh­auf­ste­her die Perlen, ohne selbst etwas beizusteuern?

Ich beschließe, das her­aus­zu­fin­den und mich auf die Suche nach außer­ge­wöhn­li­chen Tausch­pro­jek­ten zu bege­ben. Ein Blick in mein Bücher­re­gal bestä­tigt, dass ich damit nicht bis nach Weih­nach­ten warten muss: Da ist zum Bei­spiel Stefan Zweigs „Schach­no­velle“ – tolles Buch, habe ich aber zwei Mal. Dann Paulo Coel­hos Roman „Vero­nika beschließt zu ster­ben“ – nicht schlecht, aber auch nicht gut genug, um es unbe­dingt auf­zu­he­ben. Und schließ­lich noch ein Mini-Wör­ter­buch Rus­sisch, das ich nie benutzt habe.

Erste Sta­tion: das Bücher­tausch­re­gal im Haupt­ge­bäude der HU. Hier bin ich sowieso fast jeden Tag, wäre also prak­tisch, wenn ich mich nach einem langen Uni-Tag ab und zu mit einem guten Buch beloh­nen könnte. Doch zu früh gefreut: Bis auf eine Bedie­nungs­an­lei­tung für Micro­soft Works aus dem Jahr 1991 und ein Hand­buch zur Per­so­nal­ent­wick­lung herrscht in dem Regal gäh­nende Leere. Neben mir steht ein Stu­dent, er scheint ebenso wenig über­zeugt zu sein wie ich. Ich frage ihn, ob er hier öfter vor­bei­schaut. Ja, hin und wieder. Ob er schon mal etwas Gutes gefun­den habe? Nein, bisher nicht. Na, das fängt ja gut an.

Gibt was her: Im Bücherbaum in der Kollwitzstraße, Ecke Sredzkistraße steht Maupassants Bel Ami. © Jan Lindenau

Gibt was her: Im Bücher­baum in der Koll­witz­straße, Ecke Sredzki­straße steht Mau­pas­sants Bel Ami. © Jan Lindenau

Neues Spiel, neues Glück. Ich recher­chiere im Inter­net und stoße auf den Bücher­wald im Prenz­lauer Berg, der 2008 vom Verein Bau­fach­frau Berlin gegrün­det wurde. „Der ‚Bücher­wald‘ ist die erste Biblio­thek, die den Anspruch öffent­lich zu sein, wört­lich nimmt“, schreibt die taz. Ich bin gespannt. Der Wald besteht aus fünf Baum­stäm­men, die mitten auf dem Bür­ger­steig stehen. Aus den Bäumen wurden Fächer aus­ge­sägt, in denen etwa hun­dert Bücher Platz haben. Als ich ankomme, herrscht reger Betrieb: Pas­san­ten blei­ben stehen und stö­bern, Men­schen nehmen Bücher aus den Bäumen oder stel­len neue hinein. Im Ver­gleich zum Uni-Regal ist der Bücher­wald gut gefüllt. Man findet hier zwar keine aktu­el­len Best­sel­ler, doch immer­hin ein the­ma­tisch brei­tes Ange­bot. In den klei­nen Baum­lö­chern steht die Bibel neben dem Schwan­ger­schafts­rat­ge­ber, es gibt Unter­hal­tungs­li­te­ra­tur ebenso wie klas­si­sche Werke. Ich freue mich, als ich  Mau­pas­sants „Bel Ami“ ent­de­cke, da stellt gerade eine Frau ein Buch mit dem Titel „So werden Sie zur Sex­göt­tin“ in den Nach­barbaum. Klingt natür­lich auch ver­lo­ckend. Ich über­lege kurz, ent­scheide mich dann aber doch für meine lite­ra­ri­sche Bil­dung und tau­sche Mau­pas­sant gegen mein Wör­ter­buch ein.

Beflü­gelt von meinem ersten Erfolg geht es gleich weiter zur S‑Bahn-Sta­tion Gru­ne­wald. Dort steht nur wenige Schritte vom Holo­caust-Mahn­mal Gleis 17 ent­fernt eine zum begeh­ba­ren Bücher­re­gal umge­baute Tele­fon­zelle, in der Bücher getauscht werden können, die einen the­ma­ti­schen Bezug zum Natio­nal­so­zia­lis­mus auf­wei­sen. Die Tele­fon­zelle gehört zur öffent­li­chen Stra­ßen­bi­blio­thek Bücher­boXX, die 2008 vom Insti­tut für Nach­hal­tig­keit in Bil­dung, Arbeit und Kultur ins Leben geru­fen wurde. Ins­ge­samt stehen sieben sol­cher Tele­fon­zel­len in Berlin ver­teilt, die meis­ten mit Themenschwerpunkt.

Umfunktioniert: In der Telefonzelle am S-Bahnhof Grunewald findet sich Literatur mit Bezug zum Nationalsozialismus. © Jan Lindenau

Umfunk­tio­niert: In der Tele­fon­zelle am S‑Bahnhof Gru­ne­wald findet sich Lite­ra­tur mit Bezug zum Natio­nal­so­zia­lis­mus. © Jan Lindenau

Ver­ein­zelt haben sich Bücher wie ein Taschen­buch zur Ver­hal­tens­for­schung an wilden Schim­pan­sen ans Gleis 17 ver­irrt, doch im Großen und Ganzen hält die Bücher­box, was sie ver­spricht: eine große Aus­wahl an Lite­ra­tur rund um den Natio­nal­so­zia­lis­mus. Später erklärt mir Pro­jekt­lei­ter Konrad Kutt am Tele­fon, dass er mit ande­ren Anwoh­nern regel­mä­ßig unpas­sende Bücher aus­sor­tiere und neue hin­ein­stelle, die von Ver­la­gen und Stif­tun­gen gespen­det wurden. Bücher­tausch mit Nach­hilfe also. Auch hier werde ich fündig: Ein Sach­buch zum deut­schen Impe­ria­lis­mus kann ich gut für mein Geschichts­se­mi­nar gebrau­chen. Ich trenne mich dafür von meiner Schachnovelle.

Auf der Innen­seite des Buches ent­de­cke ich auf dem Nach­hau­se­weg einen Auf­kle­ber mit dem Logo der Book­cros­sing-Com­mu­nity. Book­cros­sing ist eine Online-Biblio­thek, die 2001 in den USA gegrün­det wurde und mitt­ler­weile in vielen Län­dern auf der Welt exis­tiert. Das Prin­zip ist simpel: Jeder kann seine Bücher auf bookcrossing.com regis­trie­ren, mit einer Iden­ti­fi­ka­ti­ons­num­mer ver­se­hen und dann „in die Wild­nis frei­las­sen“. Die Wild­nis – das kann ein Bücher­tausch­re­gal sein, eine Hotel­lobby oder eine Park­bank. Findet jemand das Buch, hin­ter­lässt er auf bookcrossing.com eine kurze Nach­richt – so wie ich jetzt. Auf diese Weise kann der ursprüng­li­che Besit­zer ver­fol­gen, wo sein Buch gerade unter­wegs ist. Im Ver­gleich zu den Bücher­bo­xen sind mit Book­cros­sing auch viele aktu­elle Werke unter­wegs, denn hier gilt: Je bekann­ter das Buch, desto höher die Wahr­schein­lich­keit, dass es viel reist.

Wer jedoch nicht darauf warten möchte, zufäl­lig einem aus­ge­setz­ten Buch über den Weg zu laufen, der kann „auf die Jagd gehen“: Auf bookcrossing.com kann man nach­schauen, wann wo wel­ches Buch frei­ge­las­sen wurde. Nicht weit von meiner Woh­nung ent­fernt finde ich so ein Café, in dem kürz­lich ein Buch mit dem Titel „Am Abend, als ich meine Frau ver­ließ, briet ich ein Huhn abge­legt wurde. Wer sich einen sol­chen Buch­ti­tel aus­denkt, ver­dient es gele­sen zu werden, finde ich und mache mich auf den Weg. Das Buch ist tat­säch­lich dort und das Café Mues­li­corn & Candy ent­puppt sich als Geheim­tipp: Es gibt lecke­ren Kaffee, Crêpes, Waf­feln und eine nette Café-Besit­ze­rin, mit der ich mich über Gott und die Welt unter­halte. Noch bevor ich die erste Seite meines neuen Buchs gele­sen habe, hat sich der Aus­flug schon gelohnt.

Wieder zuhause erstelle ich für „Vero­nika beschließt zu ster­ben“ einen Iden­ti­fi­ka­ti­ons­auf­kle­ber und lasse es im Bücher­re­gal in der HU frei – irgend­je­mand muss dort schließ­lich mal für fri­schen Wind sorgen. Ich bin zufrie­den: Inner­halb einer Woche habe ich drei alte Bücher gegen drei neue und ein neues Stamm­café ein­ge­tauscht. Nur das HU-Regal ent­täuscht mich ein zwei­tes Mal: Paulo Coel­hos Roman ist schon nach einem Tag ver­schwun­den – auf eine Fin­der­nach­richt warte ich bis heute.

Adressen:

Bücher­wald: Kollwitzstr./ Ecke Sredzkistr., 10435 Berlin

Bücher­te­le­fon­zelle Gleis 17: Am Bahn­hof Gru­ne­wald 5, 14193 Berlin

Café Mues­li­corn & Candy: Oudenar­der Str. 24, 13347 Berlin