Spanien: Ein Erasmus-Jahr in Madrid

“Du bleibst bestimmt für immer in Spa­nien.” – Das habe ich in letz­ter Zeit schon oft gehört: von meinen Freun­den, meiner Schwes­ter, meinen Eltern. Dabei habe ich noch nicht einmal die Zusage, dass ich von Eras­mus ange­nom­men wurde.

Von vielen Leuten habe ich schon gehört, die ein Aus­lands­jahr gemacht haben und am Ende am liebs­ten im Aus­land geblie­ben wären. “Wie es mir wohl erge­hen wird?” denke ich bei mir und durch­su­che die Post, ob viel­leicht ein Brief aus Spa­nien oder vom Eras­mus-Amt dabei ist.

 

Jähr­lich nutzen zz. unge­fähr 150.000 Euro­päer das Ange­bot des Eras­mus-Pro­gramms. Ján Figel, für Eras­mus zustän­di­ger EU-Kom­mis­sar, rech­net bis 2011 sogar damit, dass sich diese Zahl auf 300.000 Stu­die­rende pro Jahr ver­dop­peln wird. Seit eini­gen Jahren ist Spa­nien das belieb­teste Ziel­land für Stu­den­ten. Im Eras­mus-Jahr 2003/2004 waren es 22.000 Stu­den­ten, die es in den Süden auf die ibe­ri­sche Halb­in­sel zog. Im Jahr 2000/2001 waren es erst gut 17.000 Studenten.

 

In Gedan­ken bin ich schon in Madrid und stelle mir vor, wie es sein wird. Frank, ein Freund, warnt mich: “Stei­gere dich nicht zu sehr rein Jens, zuerst ist alles ganz neu und auf­re­gend, doch nach drei Mona­ten kommt dann der Kul­tur­schock und du wirst dich wieder nach Deutsch­land sehnen. Zu deinen Freun­den, deiner Fami­lie.” Kul­tur­schock — Damit kann ich jetzt noch gar nichts anfangen.

 

Nach­ge­fragt beim Bun­des­mi­nis­te­rium für Bil­dung und For­schung heißt es: “Der Kul­tur­schock äußert sich in Gefüh­len von Unzu­frie­den­heit, Müdig­keit, Heim­weh und auch Frus­tra­tion. Aber nicht alle Aus­tausch­stu­die­rende leiden unter aus­ge­präg­ten Anpas­sungs­schwie­rig­kei­ten. Falls sie jedoch ent­ste­hen, ist es wich­tig, sich seiner Erwar­tun­gen an den Auf­ent­halt bewusst zu werden und sich zu fragen, warum man mit bestimm­ten Dingen unzu­frie­den ist.”

 

Das hilft mir auch nicht viel weiter und ich beschließe, einen Freund zu befra­gen, der ein Aus­lands­jahr in den USA gemacht hat. “Das da ist eine Dienst­leis­tungs­ge­sell­schaft”, schwärmt er mir vor, “die wissen, dass man um Kunden werben muss. Nicht wie hier, wo du auf die Ange­stell­ten zuge­hen musst, wenn du etwas willst.” Wieder in Deutsch­land ange­kom­men, kam dann aller­dings die Krise, berich­tet er: “Meine Freunde aus den USA schrie­ben mir Briefe, dass alles schon wieder wird und ich mich schnell wieder ein­le­ben werde.” Am liebs­ten wäre er nächs­tes Jahr wieder in die USA gegan­gen. Dabei fällt mir Heike ein, die gerade ein Jahr in Aus­tra­lien war um ihre Diplom­ar­beit zu schrei­ben und nun, wo sie wieder in Deutsch­land ist, Berlin auf ein Mal ganz furcht­bar findet. 

 

Sie erzählt mir, dass sie vor allem die Men­ta­li­tät der Leute in Aus­tra­lien ver­misst und die Frei­heit, die sie dort hatte. Ich ver­su­che mir vor­zu­stel­len, wie das für mich sein wird. Über­lege, wie ich emp­fin­den würde, wenn ich wieder aus Spa­nien zurück­komme. Aber ich sehe schnell ein, dass ich noch nicht einmal in Madrid ange­kom­men bin, geschweige denn rea­li­siert habe, dass ich bald aus Berlin weg­zie­hen werde: Meine Woh­nung ist noch nicht inse­riert, mein Diplom­ar­beits­thema steht noch nicht fest, am Wochen­ende habe ich mir einen alten Holz­stuhl auf dem Floh­markt gekauft, den ich später abbei­zen und neu lackie­ren will. Später, das heißt in ein paar Wochen, denn Ende August geht schon mein Flug. Jetzt ist es Anfang Juli. 

Zwei Monate später finde ich mich in der Haupt­stadt Spa­ni­ens wieder. Auf dem Campus habe ich eine viel ver­spre­chende Woh­nungs­an­zeige gefun­den. Voller Erwar­tung stehe ich vor der Tür. Die Stimme des Mäd­chens am Tele­fon hat sich sym­pa­thisch ange­hört. Eine kleine Spa­nie­rin öffnet mir die Tür – an die Begrü­ßung mit Küss­chen muss ich mich wohl noch gewöh­nen, meine Brille ver­rutscht – viel­leicht der Kul­tur­schock. Gemein­sam gehen wir in die Woh­nung, in der mich ein mul­mi­ges Gefühl beschleicht. Die Woh­nung ist düster und eng. Als mir mein Zimmer gezeigt wird, trifft mich der Schlag: Durch ein Fens­ter so groß wie ein Bull­auge dringt ein ver­irr­ter Son­nen­strahl und beleuch­tet die durch­ge­le­gene Matratze in dem sonst leeren Zimmer. Und das alles für 250 Euro? “Das ist ja furcht­ba­rer als in einem Ber­li­ner Stu­den­ten­wohn­heim”, denke ich und lächle meine zukünf­ti­gen Mit­be­woh­ner an. Eine Woche später, nach 30 wei­te­ren Woh­nun­gen und eini­gen hun­der­ten Miss­ver­ständ­nis­sen habe ich meine Traum-WG end­lich gefun­den: Ich habe ein 10qm-Zimmer in einer Woh­nung mit großer Ter­asse und zwei netten Spaniern. 

 

Das muss gefei­ert werden – natür­lich in einer Tapas-Bar. Als ich einen Oli­ven­kern in den Aschen­be­cher legen will, sagt mir mein Mit­be­woh­ner, ich solle ihn auf den Boden spu­cken. Ich sehe ihn ent­setzt an, merke aber, dass das hier alle zu tun schei­nen. Daran muss ich mich erst noch gewöh­nen – Ich zucke jedes Mal unwill­kür­lich zusam­men, wenn einer meiner spa­ni­schen Mit­be­woh­ner einen Oli­ven­kern auf den Boden der Bar spuckt – wahr­schein­lich der Kulturschock.

 

Ein paar Wochen später habe ich mich an die spa­ni­schen Gepflo­gen­hei­ten gewöhnt und fühle mich wohl in Madrid. Doch der nächste Kul­tur­schock kommt bestimmt – meine Heim­reise steht mir noch bevor.

Jens Hübner