Lehrer für einen guten Zweck
[Teach First] Junge Akademiker engagieren sich in sozialen Brennpunkten. Statt direkt in den angestrebten Beruf zu starten, unterrichten sie nach dem Uni-Abschluss an Hauptschulen. Das „Teach First“-Programm ist beliebt – bei Absolventen und Schülern.
„Ey, ham wa ne Neue, oder was?!“ hört Christina die Jugendlichen raunen, als sie das rostige Tor zum Schulhof aufschiebt. Es ist ihr erster Tag an der Berliner Brennpunktschule. Doch das einzige, was dieser mit ihrer eigenen Schulzeit in diesem Moment gemein hat, ist die Schultüte, die ihr die Direktorin zur Begrüßung in die Hand gibt. Für die nächsten zwei Jahre wird dieses zweistöckige, kastenförmige Gebäude ihr Arbeitsplatz sein, dabei wollte sie in diesem Jahr eigentlich ihre Doktorarbeit beginnen.
Christina ist keine Lehramtsabsolventin. Sie hat nach dem Abitur Molekularbiologie studiert und an der Universität in Edinburgh ihren Bachelor of Science absolviert. Im Anschluss daran ging es nach Berlin für den Master in Molecular Medicine, einen englischsprachigen Studiengang. Nächstes Ziel war der Doktortitel, vielleicht in den USA. Doch dann kam sie ins Grübeln und entschied sich für einen komplett anderen Weg. Als eine der rund 70 sogenannten „Fellows“ unterstützt sie seit Beginn des Schuljahres 2009/2010 das Projekt „Teach First Deutschland“.
Bildung zurückgeben
Die Initiative „Teach First Deutschland“ beruht auf amerikanischem und britischem Vorbild. In den USA und in in Großbritannien gibt es das Projekt schon seit vielen Jahren. Es ist dort fest etabliert. Herausragende Absolventen verschiedenster Studienrichtungen entscheiden sich vor ihrem Eintritt in die Wirtschaftswelt oder in ihre Forschungszweige für einen zweijährigen Einsatz an Schulen in sozialen Brennpunkten, wo sie als zusätzliche Unterstützung den Unterricht und die Nachmittagsangebote bereichern. Auf diese Weise können sie soziales Engagement beweisen und der Gesellschaft etwas zurückgeben, die Privilegien ihrer eigenen Bildung erkennen und diejenigen unterstützen, die in bildungsferneren Schichten aufwachsen.
Nicht erst seit den Auswertungen der PISA-Studien ist offensichtlich, dass die soziale Herkunft eines Menschen in Deutschland – mehr noch als in den meisten anderen Industrieländern – besonders prägend für den Bildungserfolg ist. Demnach ist es für ein Kind aus strukturschwächeren Gegenden besonders schwer, einen guten Schulabschluss zu erreichen. Ein Ausbrechen aus den gewohnten wirtschaftlichen Strukturen ist nicht leicht. Teach First Deutschland hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, einen Wandel in den Köpfen der Menschen zu erreichen. Privilegierteren Menschen soll es ein Anliegen sein, sich sozial zu engagieren und das, was sie bisher erreicht haben, nicht für selbstverständlich zu erachten.
Soziales Engagement
Christina war schon vor ihrer Entscheidung, das Projekt zu unterstützen, sozial engagiert. So leitete sie beispielsweise eine Basketball-AG für sozial benachteiligte Schüler und erkannte bei ihrer Arbeit mit den Jugendlichen auch deren Ängste und Sorgen. Sie wollte aktiv mithelfen, Ungerechtigkeiten in Deutschland zu bekämpfen, und als sie auf einer Recruiting-Veranstaltung großer Unternehmen die Initiative „Teach First Deutschland“ kennenlernte, war sie sofort begeistert.
Aber allein der Wunsch, sich sozial einzubringen, genügt nicht, um ein Fellow zu werden. Von den Bewerbern wird neben besonders guten akademischen Leistungen auch intensives soziales, kulturelles, politisches oder sportliches Engagement erwartet. Nur wer bereits bewiesen hat, dass er „über den Tellerrand“ schauen kann und sich wirklich für das Projekt einsetzen möchte, hat eine Chance, das dreistufige Auswahlverfahren zu bestehen. Spezielle pädagogische Kenntnisse wie Unterrichtserfahrungen sind jedoch keine Voraussetzung.
Damit die jungen Akademiker das nötige didaktische Rüstzeug vermittelt bekommen und sich in ersten praktischen Projekten erproben können, nehmen die ausgewählten Fellows an einer sechswöchigen Sommerakademie teil. Hier setzen sie sich mit ihrer künftigen Rolle als Lehrerassistenten, aber auch als selbstständige Organisatoren von Nachmittagsangeboten auseinander, lernen Unterrichtsmethoden und lernpsychologische Hintergründe kennen. Auch praktische Situationen werden erprobt. Christina schätzt vor allem das oft schonungslose Feedback der Trainer und die Möglichkeit, mit ehemaligen Fellows aus Großbritannien zu sprechen, die ebenfalls eingeladen werden.
Vorbild und Inspiration
Aber auch nach dem Camp gibt es viele Möglichkeiten zur Fortbildung. „Teach First Deutschland“ organisiert in regelmäßigen Abständen Workshops und Seminare für die Teilnehmer des Projekts. Diese eignen sich gut zum Erfahrungsaustausch. Denn trotz hervorragender akademischer Leistungen und pädagogischen Vorkenntnissen bewegen sich die Absolventen auf relativ unbekanntem Gebiet.
Die Aufgabe der Fellows ist natürlich nicht, Lehrer zu ersetzen oder den Unterricht komplett zu übernehmen, wie einige Kritiker befürchten. Eine „Entprofessionalisierung“ des Lehrerberufs soll mit der Initiative in keinem Fall forciert werden. Vielmehr soll der Fellow eine Art Vorbildfunktion übernehmen, eine Inspiration für die Schüler darstellen. Gemeinsam mit den Fachlehrern kann er den Unterricht lebhafter gestalten, was auch Christina bei der Durchführung interessanter Experimente feststellen konnte. Mit einer Lehrperson mehr im Raum ist es außerdem einfacher, einzelne Schüler und ihre individuellen Bedürfnisse zu berücksichtigen.
Die Schüler mögen ihre Fellows, besuchen die Nachmittags-AGs gern und wollen mehr über Christina und ihr Studium wissen, von dem sie vorher noch nie etwas gehört haben. Umgekehrt mögen die Fellows ihre neue Herausforderung. Christina ist noch immer begeistert davon, dass einer ihrer leistungsschwächsten Schüler durch ihren Einsatz eine Eins im Bio-Test schrieb. „Wenn ich den Kindern zeige, dass ich an sie glaube, wachsen sie über sich hinaus und schaffen Dinge, die sie nie für möglich gehalten hätten“.
Profitieren durch Erfolg
Die Programmteilnehmer, die nach dem Jahr als Fellow ihre Karrieren außerhalb des schulischen Umfelds weiter verfolgen, können von ihrem sozialen Einsatz an den Problemschulen profitieren. Sie lernen wertvolle Fähigkeiten, die sie später in anderen Berufen ebenso gut gebrauchen können. Wer zwei Jahre lang mit Berliner Brennpunktschülern gearbeitet hat, den bringt so schnell nichts aus dem Gleichgewicht.
Christina weiß jedoch bereits, dass sie sich auch nach dem Einsatz als Fellow weiterhin für soziale Gerechtigkeit einsetzen möchte. Auch das ist ein Ziel der Initiative: die langfristige Vernetzung der Alumni. Im Laufe ihres beruflichen Werdegangs können sie ihre Erinnerungen an die ehemaligen Schüler und die Erfahrungen außerhalb ihres gewohnten Umfelds dafür einsetzen, ein gesellschaftliches Umdenken zu bewirken. Sei es als Journalist, Mediziner, Wirtschaftswissenschaftler oder Molekularbiologe.
Weitere Informationen
Bewerbung bis 15. März, dann wieder bis zum 30. November
www.teachfirst.de/absolventen