Die Wahrheit des Traums
Die revolutionären Zeiten der Neurowissenschaften nehmen ein Ende – Zeit für eine neue Perspektive.
Noch vor wenigen Jahren erhofften sich Naturwissenschaftler mit dem Blick in das menschliche Gehirn eine vollständige Aufklärung über das Funktionieren der menschlichen Seele – die nebenbei abgeschafft wurde. Prompt wurde behauptet, dass das Sein mit all seinen Facetten auf das Funktionieren von bestimmten Hirnarealen zurückzuführen sei. Auch die analytische Philosophie träumte von einer neurowissenschaftlichen Lösung von Problemen wie der Freiheit des Willens und der Frage, wie man eigentlich erklären kann, wie sich Schmerz anfühlt. „Ich war der analytischen Philosophie nie sonderlich zugekehrt und ihre besonnenen Köpfe kehren sich selbst beträchtlich von ihr ab“, konstatiert Christoph Türcke, Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. „Sie hat das Bewusstsein dafür geschärft, was Argumentation ist und wie sie mit Sprache zusammenhängt“, sagt er. Aber ihre große Schwäche sei es, dass sie die in den letzten 5.000 Jahren gesprochene Sprache nur als Sprache nehme und nicht begreife, dass sie nur die Firnisschicht von etwas anderem ist.
Die Vergangenheit des menschlichen Bewusstsein auskundschaften
Türcke präsentiert in seiner „Philosophie des Traums“ einen einerseits bekannten und andererseits ganz neuen Zugang zum Selbstverständnis des Menschen. In der Tradition Sigmund Freuds nähert er sich dem Thema interpretatorisch. „Es ist Zeit, die Spekulationen zu rehabilitieren“, fordert Türcke. Das meint er wörtlich. Denn „speculator heißt wörtlich Ausspäher, Kundschafter“, so Türcke. „Auch wenn die zugänglichen Fakten allein für einen Beweis nicht ausreichen, kann es sich nach menschlichem Ermessen schlechterdings nicht anders verhalten.“ Er zeigt auf, wie die Struktur des Traums – Verschiebung, Verdichtung und Symbolisierung – nach Freud zu deuten ist, also psychoanalytisch. Die Errungenschaften der neurowissenschaftlichen Analyse des Träumens möchte er nicht missen, so Türcke. Aber nur Hirnströme zu messen, „und die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns ahistorisch als seine Arbeitsweise überhaupt nehmen, ist eine Verkürzung“, sagt er.
Wie Wirklichkeit und Traum sich mischen.
Mit den Freudschen Werkzeugen geht er dem Traum mentalarchäologisch auf den Grund. Wie verändern sich die Traumstrukturen und ‑deutungen, angefangen bei den ältesten Aufzeichnungen über Träume im Gilgamesch- Epos bis hin zur Erfindung des Films? Was finden wir durch die Analyse des Traums über den Menschen heraus? Dass 1895 die Gebrüder Lumière in Paris den ersten Film zeigten, ist der eindrücklichste und am besten nachvollziehbare Wendepunkt im Verständnis des menschlichen Traumbewusstseins. Die Bilder, eingefangen von einer Kamera hätten mit der Intensität von Traumbildern gewirkt, die dem Träumer ebenfalls als vollkommen real und unausweichlich erschienen, so Türcke. „Die ohnehin unscharfe Grenze zwischen Schlaf, Traum und Wachsein ist, seit es den Film gibt, noch um einiges unschärfer geworden“, sagt er. Träume werden tendenziell immer flüchtiger. Auch die Verarbeitung der Wirklichkeit verändert sich fortlaufend. Die ständige Reizüberflutung durch Massenmedien lassen Träume „tendenziell fahriger, flüchtiger“ werden, so Türcke. Genauso wie immer mehr Menschen unter einem Aufmerksamkeitsdefizit (ADS) leiden, weil Informationen nicht mehr verarbeitet werden können. In diesem Sinne darf wohl wieder von dem Traum als Spiegel der Seele gesprochen werden.
Philosophie des Traums
Christoph Türcke
249 Seiten
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