Moskauer Relikte
IV. Teil – Mit dem Nachtzug geht die Reise weiter nach Moskau. Hier treffen wir auf Relikte aus der Sowjetzeit und Gastgebern, für die das Leben eine einzige Reise ist.

Das Verabschieden vom Bahnhof und das Empfangen am Gleis sind in Russland immer noch solch feste Rituale, dass es jeweils ein eigenes Wort dafür gibt. Auch für unsere Gastgeberinnen Angela und Yoshi ist die „provožanije“ selbstverständlich. Mit Bier und Suchariki – geröstete Brotstreifen, stark gewürzt und in Geschmacksrichtungen von Kaviar bis Krabbe – stehen wir um halb 11 Uhr abends auf dem Gleis und stoßen das letzte Mal miteinander an. Der Zug wird uns am nächsten Morgen in Moskau wieder ausspucken, bis dahin verbringen wir die Nacht überwiegend schlafend auf unseren Liegen im günstigsten Gruppenwaggon. Manche Mitreisenden nutzen die Nacht anders, unterhalten sich mit ihren Nachbarn und leeren ihre Flaschen mit klarem Inhalt.
Alltägliche Probleme in der Millionen-Metropole
Unsere erste Anlaufstation in Moskau ist das Studentenwohnheim von Martins Bruder. Lukas studiert Volkswirtschaftslehre und ist für ein Auslandssemester in die größte russische Stadt mit über 11 Millionen Einwohnern gezogen. Bevor wir jedoch das Wohnheim, in denen vor allem ausländische Studierende untergebracht sind, betreten können, machen wir Bekanntschaft mit dem strengen Regime russischer Wohnheimbetreuer. Ausweise hinterlegen, Unterschriften setzen, sich durch ein enges Drehkreuz zwängen und spätestens um 11 wieder draußen sein – scharfe Relikte aus der Zeit der Sowjetunion. Wer Freunde mitbringt, zu spät nach Hause kommt oder einen Antrag zur Verbesserung der Lebensqualität hat, muss zuerst an deren Machtmonopol vorbei. Eine praktische Geschichtsstunde im real existierten Sozialismus – nicht frei von Korruption und Willkür.
Lukas wohnt mit Martin, einem Kommilitonen aus Tübingen, in einem kleinen Zwei-Bett-Zimmer. Der Katalog ihrer Ärgernisse mit der russischen Bürokratie ist in den wenigen Wochen, die sie schon in Moskau sind, rasch gewachsen. Aktuelles Projekt von Lukas ist es, sich ein Studententicket für die Metro zu besorgen. Er füllte das nötige Formular auf Russisch aus – Vorsicht, Formfehlergefahr –, reichte dieses mit einem Foto bei einer Metrostation ein, schaute alle paar Tage vorbei, nur um zu sehen, dass sein Antrag vorerst noch nicht bearbeitet wurde. Im Vergleich zu dem Prozedere erscheint mir der praktische BVG-Aufkleber auf meinem Studentenausweis plötzlich attraktiver als je zuvor.
Nummerntausch im Einkaufszentrum
Lukas und Martin nehmen uns auf einen langen Spaziergang ins Zentrum mit. Die Wolkenkratzer der Olligarchen bewohnen die eine Seite der Moskva – dem Fluss, der durch die Stadt mäandert – auf der anderen Seite parken Luxuskarossen vor dem Hotel Ukraine. Das Haus im Zuckerbäckerstil gehört zu den Sieben Schwestern, pompöse Hochhäuser aus der Stalinzeit. Äußerlich ähnlich, werden sie unterschiedlich genutzt: als Wohnhaus oder fürs Außenministerium, auch die Moskauer Universität gehört zu den Schwestern. Ein halbes Jahrhundert älter ist das GUM, ein Einkaufszentrum direkt am Roten Platz. Als unsere Spaziergruppe, vier junge und deutschsprechende Männer, das GUM betreten, dauert es nicht lange, bis wir von zwei jungen und russischen Frauen angesprochen werden. Eine von ihnen spricht ein wenig Deutsch und tauscht mit den Auslandssemestlern prompt die Telefonnummern aus. Martin wird die erste SMS von ihr erhalten, noch bevor es Abend wird.
Es wird dunkel und Abend, Martin und ich machen uns zu unseren Gastgebern für die nächsten Nächte auf. Tonya und Fedya, ein verheiratetes Paar Anfang 20, wohnen im Nordwesten Moskaus, in einem Viertel, in dem die Plattenbauten hoch und trostlos sind. Spannend wird es, wenn man Einblicke in die verschiedenen Welten erhält, die sich hinter den Fenstern verbergen. Eine davon erleben wir an diesem Abend: Tonya ist Fotografin, ihr Mann Fedya Student. Ein großer Fernseher zeugt von ihrer Filmbegeisterung, doch ihre wahre Leidenschaft finden wir in der Küche: Auf einer Europakarte über dem Küchentisch zeigen uns die beiden ihre bisherigen Reiserouten und erzählen von ihren Rundreisen durch Dänemark, Frankreich und Portugal. Sobald sie genügend Geld beisammen haben, schultern sie ihre Rucksäcke und besuchen ein neues Land.
Eine Anlaufstelle für Russlandreisende
Angela und Yoshi haben uns in St. Petersburg typische Verhältnisse der russischen Stundenten vorgelebt – beide zusammen hatten pro Woche rund ein Dutzend Euros zur Verfügung –, Tonya und Fedya können sich merklich einen anderen Lebensstandard leisten und haben sich hier, im Moskauer Plattenbau, ihr gemütliches Basiscamp für ihre Expeditionen geschaffen. Heiße Suppe, Ratatouille mit Buchweizengrütze, frische Wassermelone; aus Gastfreundschaft und eigener Erfahrung bietet uns das Gastgeberpaar die häusliche Gemütlichkeit, die sie bei den meisten Couchsurfern zu schätzen wissen.
Während wir noch am Tisch sitzen, kriegen wir späten Besuch. Jérémy, Franzose und Reisebekanntschaft von Tonya und Fedya, hat sich spontan angekündigt. Er ist Mitte 20 und nimmt sich für ein paar Monate eine Auszeit von seinem Beruf als Journalist, um eine Weltreise zu machen. Russland und Moskau sind sein Startpunkt, die weitere Reiseroute soll ihn über die Transsibirische Eisenbahn nach Asien führen. Doch bevor er sein Ticket löst, schließt er sich Martin und mir an und erkundet am nächsten Tag mit uns Moskau.
Die Reise geht weiter. Auf unserer Website Stadtstudenten.de schreibt Jan weiter über seine Erlebnisse, Erfahrungen und Beobachtungen aus Russland.