Lenin friert

In Sibirien hat Hannah mit dem Vorurteil aufgeräumt, alle Russen wären ständig betrunken. © Jan Lindenau

In Sibi­rien wird es nie Sommer. Es gibt keine großen Städte, nur end­lose, ver­schneite Weiten und die Ein­hei­mi­schen schüt­zen sich mit Unmen­gen Wodka vor der Kälte. Über kaum eine andere Region exis­tie­ren so viele Kli­schees wie über Sibi­rien – doch wie sieht es wirk­lich aus, im Osten Russlands?

Wäh­rend die meis­ten ihrer Sla­wis­tik-Kom­mi­li­to­nen ihr Aus­lands­stu­dium in Moskau oder Sankt Peters­burg ver­brin­gen, hat sich Hannah hinter dem Ural auf Spu­ren­su­che bege­ben. Zwei Semes­ter hat sie in der sibi­ri­schen Haupt­stadt Novo­si­birsk stu­diert und auf ihrem Blog regel­mä­ßig über ihre Erfah­run­gen berich­tet. Die High­lights hat sie hier für euch zusammengestellt.

August 2013

Sams­tag­mor­gen, mein Sibi­rien-Aben­teuer beginnt. Pünkt­lich um sieben Uhr stehe ich am Check-In des Ber­li­ner Flug­ha­fens, dank meiner Flug­angst in der festen Über­zeu­gung, diesen Tag nicht zu über­le­ben. Dann läuft aber doch alles gut: Die freund­li­che Dame am Air Berlin-Schal­ter igno­riert gnädig die drei Kilo Über­ge­päck und auch mein Hand­ge­päck, das statt der erlaub­ten sieben stolze zehn­ein­halb Kilo auf die Waage bringt, fällt nicht weiter auf. Fröh­lich stie­fele ich mit meinen kana­di­schen Win­ter­boots, die ich auf­grund ihres enor­men Eigen­ge­wichts nicht mehr im Koffer unter­brin­gen konnte, durch die Kör­per­kon­trolle, alle Beam­ten spre­chen mir ihr Mit­leid aus.

September 2013

Wenige Tage nach meiner Ankunft in Novo­si­birsk emp­fängt mich meine Insti­tuts­lei­te­rin Galina Miha­jl­ovna in ihrem Büro mit den Worten, ich solle mir nichts daraus machen, wenn mir Novo­si­birsk nicht beson­ders gefalle, diese sowje­ti­schen Städte seien eben ein biss­chen anders. Ich weiß nicht genau, ob sie damit die Tat­sa­che meint, dass man sich immer ent­we­der in der Engels­straße, der Karl Marx- oder auf der Roten Allee befin­det, die, dass man beim Ver­las­sen der zen­tra­len Metro­sta­tion einem gigan­ti­schen Lenin direkt in die Arme läuft oder die, dass alle schö­nen Plätze grund­sätz­lich von irgend­wel­chen Plat­ten­bau­ten ver­deckt werden.

Im rus­si­schen Stu­den­ten­wohn­heim ver­liert das Wort Pri­vat­sphäre schnell jede Bedeu­tung. Ich gewöhne mich daran, dass meine kasa­chi­sche Zim­mer­nach­ba­rin Lera kei­ner­lei Schlaf­be­dürf­nis zu haben scheint, ihre Mutter uns jeden Tag min­des­tens eine Stunde lang über die Webcam Gesell­schaft leis­tet und daran, dass neben mir schlecht syn­chro­ni­sierte ame­ri­ka­ni­sche Fern­seh­se­rien laufen, wäh­rend ich mich durch meine Rus­sisch­haus­auf­ga­ben kämpfe.

Dezember 2013

Meine erste Prü­fung steht an. Münd­lich soll ich gleich die Höhe­punkte des lite­ra­ri­schen Russ­lands im 19. Jahr­hun­dert wie­der­ge­ben. Und das in der Spra­che, in der ich bisher immer gut damit gefah­ren bin, mich ent­we­der auf die Gram­ma­tik oder den Inhalt zu kon­zen­trie­ren. Nun soll also beides gleich­zei­tig klappen.

Ein paar Minu­ten später erzähle ich irgend­et­was über die Tragik der Lie­bes­ge­schich­ten von Tur­gen­evs Helden und über die Frau­en­gestal­ten in Gont­scha­rovs Roman „Oblo­mov“, den ich leider nicht einmal gele­sen habe. Ich ver­su­che, mich in den rus­si­schen Meis­ter hin­ein­zu­ver­set­zen und stelle ein paar steile Thesen auf. Nach der Prü­fung geht meine Dozen­tin Elena Alek­sand­rovna zum Small­talk über – da kann ich wieder punk­ten. Ja, Novo­si­birsk gefällt mir wahn­sin­nig gut. Selbst­ver­ständ­lich bin ich mit dem Unter­richt an der Uni zufrie­den. Und klar könnte ich mir vor­stel­len, für immer in Sibi­rien zu blei­ben. Am Ende gibt’s die Best­note. Danke, Elena Aleksandrovna!

Perfekt zum Schlittschuhlaufen: der Fluss Ob im Winter. © Hannah Wagner

Per­fekt zum Schlitt­schuh­lau­fen: der Fluss Ob im Winter. © Hannah Wagner

Februar 2014

Es gibt diesen Mythos, der besagt, dass man im rus­si­schen Winter auf­grund der beson­ders tro­cke­nen Luft die Kälte gar nicht rich­tig spürt. Das ist tota­ler Quatsch. Bei minus 30 Grad ist es schwei­ne­kalt. Es ist so kalt, dass so ziem­lich alles ein­friert, was ein­frie­ren kann: Flüsse, Hände, Wim­pern – und leider auch mein Smart­phone. Die ver­schnei­ten Geh­wege auf dem Unige­lände müssen von Bag­gern frei­ge­schau­felt werden und die Novo­si­birs­ker Stadt­rei­ni­gung ist zur­zeit vor­wie­gend damit beschäf­tigt, die Häu­ser­dä­cher von gigan­ti­schen Eis­zap­fen zu befreien, bevor die rei­hen­weise vor­über­ge­hende Pas­san­ten erschla­gen könnten.

Die Neu­jahrs­fe­rien sind vor­über, mein zwei­tes Semes­ter beginnt. Im Phi­lo­so­phie­un­ter­richt hält Pro­fes­sor Viktor Vasil­je­witsch eine Lob­rede auf die Sowjet­union, Stalin und die Völ­ker­freund­schaft, wür­digt aber pflicht­treu auch den „hellen, strah­len­den Kapi­ta­lis­mus“ Putins. Er emp­fiehlt uns, keine Waren aus dem Westen zu kaufen und ich beschließe, meine Natio­na­li­tät in diesem Kurs lieber für mich zu behalten.

Mai 2014

End­lich ist auch in Novo­si­birsk Früh­ling und ich nutze die letz­ten beiden Monate vor der Heim­reise, um die Städte zu sehen, die auf meiner Sibi­rien-Sight­see­ing-Liste übrig geblie­ben sind. An diesem Wochen­ende ist Omsk an der Reihe. Im Hostel bin ich der ein­zige Gast und so freunde ich mich schnell mit der Besit­ze­rin Tanja an. Sie wohnt selbst im Hostel, um sich das Geld für die Miete zu sparen. Gerade ist auch ihr Kumpel Maksim in der Woh­nung, mit dem ich in der Küche Tee trinke, wäh­rend Tanja mir ein Bett bezieht. Maksim trägt ein T‑Shirt mit einem auf­ge­druck­ten Panzer, auf dem in großen roten Buch­sta­ben „Nach Berlin!“ geschrie­ben steht. Glück­li­cher­weise freut sich Maksim den­noch über den uner­war­te­ten deut­schen Besuch und lädt Tanja und mich abends ins Kino ein.

Die obligatorische Lenin-Statue. © Hannah Wagner

Die obli­ga­to­ri­sche Lenin-Statue. © Hannah Wagner

Juli 2014

Meine letzte Woche in Novo­si­birsk bricht an – nach zehn Mona­ten irgend­wie ein komi­sches Gefühl: Ich habe mich daran gewöhnt, nie alleine in meinem Zimmer zu sein, daran, dass ich als Vege­ta­rie­rin in Restau­rants grund­sätz­lich nur Bei­la­gen bestelle und die Vor­stel­lung, schon bald wieder alle auf Anhieb zu ver­ste­hen und von allen auf Anhieb ver­stan­den zu werden, erscheint mir bei­nahe unheim­lich. Und dann geht alles ganz schnell: ein letz­ter Strand­tag mit Lera, ein letz­tes Mal ver­bo­te­ner­weise in der Woh­nung der Mutter meiner Freun­din Marina Was­ser­pfeife rau­chen und ein letz­tes Mal ins halb­le­gale Nagel­stu­dio im Nach­bar­wohn­heim. Und schon heißt es Abschied nehmen von einer Stadt, die wohl nicht Russ­lands schönste ist, deren Men­schen mir aber inner­halb der letz­ten zehn Monate sehr ans Herz gewach­sen sind. Do swi­da­nija*, Novosibirsk!

*Auf Wie­der­se­hen