Die Welt als Freund
Soziale Netze verändern das Verständnis von Freundschaft. Intimität, Exklusivität und Kommunikation erhalten einen neuen Stellenwert.
„Der Freund der ganzen Welt ist nicht der meine.“ Mit diesen Worten strafte Alceste, die Hauptfigur in Molières „Le Misanthrop“, seinen vermeintlichen Freund ab, als er einem flüchtigen Bekannten freundliche Gesten und Wertschätzungen entgegenbrachte. Die sieht Alceste allein für die innige Freundschaft zweier Menschen reserviert. Wie würde Alceste reagieren, wenn er von einer Erfindung wüsste, die Freundschaft grundlegend verändert: Facebook.
Eine Freundschaft besteht aus exklusivem Wissen über die Dinge, die den jeweils anderen bewegen und umhertreiben. Die intimen Details eines Menschen verkommen zu schalen Nichtigkeiten, wenn wir sie mit jedermann teilen. Mit seinem hohen Anspruch an Intimität ist dieses Verständnis von Freundschaft in Zeiten sozialer Netzwerke wie Facebook selten vereinbar. Hier kann sich das Individuum frei nach seinem Willen mit allen Wichtig- und Kleinigkeiten seines Lebens präsentieren. Die Vorteile: Beziehungen erfahren eine längere Haltbarkeit und scheitern nicht an größeren Entfernungen. Jedoch verwässert die Masse den Begriff von Freundschaft im Sinne der Exklusivität. Im Durchschnitt hat jeder Facebook-Nutzer 130 Freunde in seiner Liste. Die Kommunikation verliert ihre eindeutige Richtung: Informationen werden nicht an eine bestimmte Person gesandt, sondern einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Nur um zu schauen, wer darauf reagiert.
Wer alles toll findet und an jedem noch so unwichtigen Gedanken anderer partizipiert, verliert schnell den Anspruch, eigene Prinzipien zu haben, die der Persönlichkeit sonst eine unverwechselbare Kontur verschaffen. Dabei ermöglicht gerade Facebook das Erschaffen eines Profils durch die Vielzahl der Möglichkeiten, sich zu Standpunkten zu bekennen. Dass diese Profilierung im öffentlichen Raum stattfindet, macht sie nicht gleich verwerflich. Kritischer ist der Aspekt zu sehen, dass mit einem Facebook-Profil immer ein zu hübsches Selbst inszeniert wird. Denn niemand würde seine Schwächen aller Welt zu Füßen legen. Stellvertretend für die einseitig positive Ausrichtung ist der „Gefällt mir“-Button, ein Gegenteil gibt es nicht.
Es scheint den Menschen ein außerordentliches Bedürfnis zu sein, Sprüche zu kommentieren, mit Menschen zu chatten, Videos zu bewerten. Schließlich verbringen alle Nutzer zusammengerecht laut offizieller Statistik pro Monat 1,3 Millionen Jahre mit der Pflege ihrer Kontakte. Diese Zahl gibt an, wie lange ein einzelner Mensch dafür brauchen würde. Es würde nicht wundern, wenn die Zeit der virtuellen Korrespondenz länger ist als die des persönlichen Kontaktes. Leider gibt es hierfür keine evidente Statistik.
Mit diesem Wissen im Hinterkopf, könnte man Alceste den Vorwurf machen, ein eifersüchtiger Egomane zu sein. Er trifft eine Entscheidung: Am Ende der Geschichte will er allen Heucheleien entfliehen und sich einen „abgelegenen Winkel auf Erden suchen“, um in Freiheit „ein Ehrenmann zu bleiben“. Aber sollte das wirklich die einzige Möglichkeit sein?
André Werner