Von Sinnen
Die Philosophen haben Berlin nur verschieden interpretiert. Es kömmt aber darauf an, es zu erleben.
Bereits beim Frühstücken trennt sich die Spreu vom Weizen dramatisch. Marxisten essen nicht, sondern rauchen eine Zigarette und stürzen sich dann in die Arbeit, um die Menschheit vor dem Gespenst des Kapitalismus zu befreien. Diskursethiker ernähren sich biologisch einwandfrei, und die religiös-spirituell angehauchten Philosophen beten ein Mantra runter und essen Licht. Nur die Analytiker gehen in der Kastanienallee frühstücken. Das Schöne an der Philosophie ist, dass man sie überall betreiben kann.
Die Ethik studiert man am Menschen, die Anthropologie leider manchmal auch. Die neuesten Bewusstseinstheorien kann man mit Freunden diskutieren und Gedankenexperimente sind auch im öffentlichen Raum nicht verboten. So gibt es auch wenig ausgewiesene Spielorte für die Spieltheorien und Tummelplätze für Descartes Menschmaschinen. Signifikant häufig findet man sie in Museen, beispielsweise in der Alten Nationalgalerie und im Museum für Naturkunde.
Tagsüber treibt sich der Philosoph an sich gern im Park herum, zum Beispiel im Volkspark Friedrichshain, um den dumpfen Pöbel zu betrachten. Am liebsten verbringen die Theoretiker aber ihre Zeit mit Büchern und dem Schreiben von Aufsätzen, die sie später ihren eigenen Studis in die Hand drücken wollen. Im philosophieblog.de tauschen sie ihre Gedanken aus, auf kritikon.de und sicetnon.org loben sie die Kollegen oder nehmen Argumente so lange auseinander, bis es keine mehr sind.
Kommen Freunde von außerhalb zu Besuch – Berliner Philosophie- Studenten sind nie Berliner –, zeigen sie denen nicht den Checkpoint Charlie, sondern wandern auf den Pfaden der Weisheit. Philosophische Stadtrundgänge, beispielsweise mittels kulturplanung.de, machen es möglich. Für den waschechten Philosophen kommt ein Clubbesuch am Freitagabend nicht in Frage. Egal ob er aus der Frankfurter Ecke kommt oder sich mit dem moralischen Verhalten von Spiegelneuronen beschäftigt: Sinnlos durch die Gegend zu dancen bedeutet den absoluten Prestigeverlust.
Abends trifft man sich zur Lesung im Literaturhaus Berlin, der Urania oder in den renommierten Wissenschaftsinstitutionen Berlin- Brandenburgs. Bei dem Philosophie-Arbeitskreis MoMo (früher traf man sich immer Montags) kann man sich zu einer gepflegten Diskussion, zuletzt zum Thema „Zur kreativen Funktion von Individual- und Wahrnehmungsmodellen“, niederlassen. Danach gibt es ein gepflegtes Bier („Das fand ja Jean Paul schon klasse: ‚Welch ein Bier! Mein Lethe, mein Nil, meine Vorletzte Ölung, mein Weihwasser’!“) in einer der unzähligen Bars und Cafés in Kreuzberg wie beispielsweise im Cafe „Matilda“ (http://kreuzberg24.net).