„Sprachliche Erste Hilfe“
Studentisches Engagement für Geflüchtete
Vor 15 Jahren begannen Studierende der Freien Universität (FU) Berlin in der Asyl-Erstaufnahmestelle in Spandau kostenlosen Deutschunterricht anzubieten, mit dem Ziel, Geflüchteten eine Stimme zu geben. Mittlerweile ist aus der studentischen Initiative von damals der Verein Multitude e.V. geworden, der sich mit mehreren hundert Freiwilligen berlinweit engagiert.
Fernab vom Berliner Stadttrubel, im Spandauer Industriegebiet Siemensstadt liegt das Flüchtlingsheim. Viermal wöchentlich kommen junge Leute nach Feierabend hierher und geben ehrenamtlich Deutschunterricht. So auch an diesem Mittwoch. Es ist schon dunkel, wodurch die Gegend um das Heim in der Motardstraße noch düsterer wirkt, als sie ohnehin ist. Einige Erwachsene erwarten die Lehrenden schon vor den Unterrichtsräumen, während die Kinder in den Gängen toben. Alles wirkt zunächst ein bisschen chaotisch. „Wir wissen vorher nicht, welche Lehrer und welche Schüler kommen. Das macht das Ganze sehr lebendig“, erzählt Ludwig, einer der Sprachlehrer, der von Beruf eigentlich Naturwissenschaftler ist. Tanja, die tagesverantwortliche Kursleiterin, teilt die Gruppen ein. Heute gibt es vier Deutschkurse, die sich nach Niveaustufen unterscheiden. Parallel soll Kinderbetreuung stattfinden. Nach etwa zehn Minuten sind SchülerInnen und LehrerInnen auf verschiedene Räume verteilt.
Durch Ehrgeiz zur Eigenständigkeit
In Tanjas Kurs sind diejenigen, die schon ein kleines bisschen Deutsch können. Zu Beginn gibt es eine Vorstellungsrunde. Der Reihe nach sagen alle, wie sie heißen und woher sie kommen. Die Gruppe ist bunt gemischt: Männer und Frauen aus Ägypten, Albanien, Syrien und Afghanistan. Tanja fragt in die Runde, was ihre SchülerInnen heute lernen möchten. Niemand antwortet. „Ok. Dann gehe ich jetzt einfach mal ein paar Arbeitsblätter kopieren“, sagt sie schließlich. Tanja ist keine ausgebildete Deutschlehrerin, sondern Erzieherin. Bei Multitude engagiert sie sich seit mehr als vier Jahren. Man merkt, dass sie Routine im Unterrichten hat und sich nicht so schnell verunsichern lässt, wenn sich mal niemand traut auf ihre Fragen zu antworten. Nach 30 Sekunden kommt sie lächelnd mit einem Stapel Kopien zurück. Darauf sind Bilder mit Wolken, Sonne, Regen und knappe Sätze wie: „Es ist sonnig.“ Wir reden heute also über das Wetter. „Kennt ihr das Wetter?“, fragt Tanja in die Runde, „Also Sonne, Regen, Wind, Schnee?“ Nach einigem Zögern sagt eine Schülerin: „Ja, Schnee, kalt…“ Langsam kommt ein holpriges Gespräch über das Wetter und die Jahreszeiten in Gang. Nachdem die SchülerInnen etwas aufgetaut sind, nehmen sie den Unterricht mit sichtlichem Interesse an. Jedes Wort, das Tanja auf eine kleine Tafel vorschreibt, wird fleißig in Vokabelhefte übertragen.
Eine Tür weiter sitzt Ludwig mit drei Schülern, die gerade das Alphabet und die Zahlen lernen. An einfachen Rechenaufgaben sollen sie sich mit der Aussprache und dem Schreiben von Zahlwörtern vertraut machen. Seinen Unterricht muss Ludwig heute nicht allein halten. Studentin Lucie, die zum ersten Mal dabei ist, schaut zu und hilft mit. Beim Unterrichten sind Neueinsteiger, wie sie nicht auf sich allein gestellt. Sie hospitieren erst einmal, bevor sie einen eigenen Kurs leiten. „Es ist schön zu sehen, mit welchem Ehrgeiz die Schüler dabei sind“, staunt sie. Lucie hat vor, nächste Woche wieder zu kommen.
„Es ist schön zu sehen, mit welchem Ehrgeiz die Schüler dabei sind.“
Ein Kurs dauert zwei Stunden. Nach der Hälfte der Zeit wird es laut im Gebäude. Die Kinder haben angefangen im Flur Fußball zu spielen, was die Konzentration erschwert. „Es ist schwierig mit Kindern, die vor und auf der Flucht schlimme Erfahrungen gemacht haben“, berichtet Ludwig. „Sie können sich vielleicht eine halbe Stunde ruhig verhalten und spielen oder basteln. Irgendwann können sie sich aber nicht mehr zusammenreißen und stören dann stark. Wir versuchen damit umzugehen. Aber ich würde mir für die Kids eine geschulte Betreuung im gesetzlich vorgeschriebenen Umfang wünschen. Schließlich sind sie besonders schutzbedürftig“, erklärt er. Das Heim in der Motardstraße ist eine Erstaufnahmeeinrichtung. Für traumatisierte Kinder ist dies eine unsichere Lebenssituation. Deshalb gebe es hier auch mehr Probleme als in permanenten Berliner Unterkünften, in denen sich die Kinder untereinander kennen und gemeinsam zur Schule gehen. Eine weitere Schwierigkeit sei es, so Ludwig, Frauen mit dem Unterricht zu erreichen. Erfahrungsgemäß seien die meisten Schüler in der Motardstraße Männer. Aber auch das sei ein spezifisches Problem der Erstaufnahmeeinrichtung. In anderen Unterkünften gibt es Lösungsansätze, wie separate Frauengruppen, die gut besucht sind.
Ein Erfolg von Multitude ist, dass SchülerInnen, die ein bestimmtes Sprachniveau erreicht haben, beim Unterricht mithelfen können. So wie Hasan aus Syrien, der vor drei Jahren selbst in der Spandauer Erstaufnahmeeinrichtung lebte und als Schüler im Deutschunterricht von Multitude saß. Mittlerweile hat er eine eigene Wohnung in Berlin. Trotzdem besucht er regelmäßig die Kurse in Spandau. „Ich mache hier alles: Unterricht, Übersetzen, Kinderbetreuung“, erzählt er. „Fast alle hier kennen mich.“ Heute läuft er zwischen den verschiedenen Kursräumen hin und her. Wenn die Unterrichtskommunikation schwierig wird, übersetzt er vom Arabischen ins Deutsche und umgekehrt. Zwischendurch redet und spielt er mit den Kindern.
Gemeinsam Probleme bewältigen
Hinter dem Engagement von Multitude steckt der Gedanke, Geflüchteten Sprachkenntnisse zu vermitteln und sie über ihre Rechte aufzuklären, damit sie möglichst selbstbestimmt in Deutschland leben können. Menschen, die in Deutschland ankommen, haben keinen rechtlichen Anspruch auf einen Deutschkurs, solange ihr Asylantrag nicht anerkannt ist. Dies kann oft Monate dauern. „Sprachunterricht ist eigentlich eine Staatsleistung, die wir nicht ersetzen wollen“, erklärt Ludwig, „Unser Gedanke ist, Menschen zu einer Würde zu verhelfen, indem wir ihnen eine Möglichkeit geben, ihre Stimme geltend zu machen“.
„Sprachliche Erste Hilfe“ nennt er das. Dazu muss man kein ausgebildeter Sprachlehrer sein. „Der Wunsch nach Kontakt ist wichtig. Es hilft sicher, wenn man schon einmal vor Menschen gestanden hat. Aber wir stehen eigentlich nicht vor Menschen, wir sind mit ihnen zusammen“, so Ludwig. Deshalb organisieren die Mitglieder von Multitude neben Sprachkursen und Kinderbetreuung auch Kino- oder Kochabende und bieten eine Garten-AG an, um die Menschen von ihrem oft tristen Heimalltag abzulenken.
“Wir stehen eigentlich nicht vor Menschen, wir sind mit ihnen zusammen.”
Multitude geht auf die „Initiative Deutschunterricht“ einzelner Studierender der FU im Jahr 2001 zurück. Seit 2011 ist aus der Initiative ein Verein mit etwa 300 Ehrenamtlichen geworden. Finanziert wird die Arbeit durch Spenden. Angesichts gestiegener Flüchtlingszahlen sind die Deutschkurse gefragter denn je. Immer mehr BerlinerInnen möchten sich für Geflüchtete einsetzen. „Das Ehrenamt ist ja zurzeit ziemlich angesagt in Mitte. Es dünnt aber schnell aus, wenn man an die Stadtränder kommt. Dementsprechend sind die meisten von uns betreuten Unterkünfte in Stadtteilen, die nicht so fotogen sind: Spandau, Lichtenberg, Adlershof oder Grünau“, erklärt Ludwig. Die Tatsache, dass Multitude vor allem in Randbezirken aktiv sei, mache den Unterschied zu anderen ehrenamtlichen Projekten aus. Als besonders motivierend für die ehrenamtliche Tätigkeit beschreibt Ludwig das Gemeinschaftsgefühl innerhalb des Vereins, aber auch zu sehen, dass die Geflüchteten den Unterricht gerne besuchen: „Wir sind diejenigen die zu ihnen kommen und den ersten Schritt machen und das rechnen sie einem sehr hoch an.”
Wer bei Multitude mitmachen möchte, sollte zunächst ein Einstiegstreffen besuchen. Interessierte können sich dort über den politischen und rechtlichen Rahmen der Arbeit mit Geflüchteten informieren. Zudem werden Didaktikworkshops angeboten.
Weitere Infos unter: www.multitude-berlin.de