„Sprachliche Erste Hilfe“

Studentisches Engagement für Geflüchtete

Foto: Martina Krafczyk

Vor 15 Jahren began­nen Stu­die­rende der Freien Uni­ver­si­tät (FU) Berlin in der Asyl-Erst­auf­nah­me­stelle in Span­dau kos­ten­lo­sen Deutsch­un­ter­richt anzu­bie­ten, mit dem Ziel, Geflüch­te­ten eine Stimme zu geben. Mitt­ler­weile ist aus der stu­den­ti­schen Initia­tive von damals der Verein Mul­ti­tude e.V. gewor­den, der sich mit meh­re­ren hun­dert Frei­wil­li­gen ber­lin­weit engagiert.

Fernab vom Ber­li­ner Stadt­tru­bel, im Span­dauer Indus­trie­ge­biet Sie­mens­stadt liegt das Flücht­lings­heim. Vier­mal wöchent­lich kommen junge Leute nach Fei­er­abend hier­her und geben ehren­amt­lich Deutsch­un­ter­richt. So auch an diesem Mitt­woch. Es ist schon dunkel, wodurch die Gegend um das Heim in der Motard­straße noch düs­te­rer wirkt, als sie ohne­hin ist. Einige Erwach­sene erwar­ten die Leh­ren­den schon vor den Unter­richts­räu­men, wäh­rend die Kinder in den Gängen toben. Alles wirkt zunächst ein biss­chen chao­tisch. „Wir wissen vorher nicht, welche Lehrer und welche Schü­ler kommen. Das macht das Ganze sehr leben­dig“, erzählt Ludwig, einer der Sprach­leh­rer, der von Beruf eigent­lich Natur­wis­sen­schaft­ler ist. Tanja, die tages­ver­ant­wort­li­che Kurs­lei­te­rin, teilt die Grup­pen ein. Heute gibt es vier Deutsch­kurse, die sich nach Niveau­stu­fen unter­schei­den. Par­al­lel soll Kin­der­be­treu­ung statt­fin­den. Nach etwa zehn Minu­ten sind Schü­le­rIn­nen und Leh­re­rIn­nen auf ver­schie­dene Räume verteilt.

Durch Ehr­geiz zur Eigenständigkeit

In Tanjas Kurs sind die­je­ni­gen, die schon ein klei­nes biss­chen Deutsch können. Zu Beginn gibt es eine Vor­stel­lungs­runde. Der Reihe nach sagen alle, wie sie heißen und woher sie kommen. Die Gruppe ist bunt gemischt: Männer und Frauen aus Ägyp­ten, Alba­nien, Syrien und Afgha­ni­stan. Tanja fragt in die Runde, was ihre Schü­le­rIn­nen heute lernen möch­ten. Nie­mand ant­wor­tet. „Ok. Dann gehe ich jetzt ein­fach mal ein paar Arbeits­blät­ter kopie­ren“, sagt sie schließ­lich. Tanja ist keine aus­ge­bil­dete Deutsch­leh­re­rin, son­dern Erzie­he­rin. Bei Mul­ti­tude enga­giert sie sich seit mehr als vier Jahren. Man merkt, dass sie Rou­tine im Unter­rich­ten hat und sich nicht so schnell ver­un­si­chern lässt, wenn sich mal nie­mand traut auf ihre Fragen zu ant­wor­ten. Nach 30 Sekun­den kommt sie lächelnd mit einem Stapel Kopien zurück. Darauf sind Bilder mit Wolken, Sonne, Regen und knappe Sätze wie: „Es ist sonnig.“ Wir reden heute also über das Wetter. „Kennt ihr das Wetter?“, fragt Tanja in die Runde, „Also Sonne, Regen, Wind, Schnee?“ Nach eini­gem Zögern sagt eine Schü­le­rin: „Ja, Schnee, kalt…“ Lang­sam kommt ein holp­ri­ges Gespräch über das Wetter und die Jah­res­zei­ten in Gang. Nach­dem die Schü­le­rIn­nen etwas auf­ge­taut sind, nehmen sie den Unter­richt mit sicht­li­chem Inter­esse an. Jedes Wort, das Tanja auf eine kleine Tafel vor­schreibt, wird flei­ßig in Voka­bel­hefte übertragen.

Eine Tür weiter sitzt Ludwig mit drei Schü­lern, die gerade das Alpha­bet und die Zahlen lernen. An ein­fa­chen Rechen­auf­ga­ben sollen sie sich mit der Aus­spra­che und dem Schrei­ben von Zahl­wör­tern ver­traut machen. Seinen Unter­richt muss Ludwig heute nicht allein halten. Stu­den­tin Lucie, die zum ersten Mal dabei ist, schaut zu und hilft mit. Beim Unter­rich­ten sind Neu­ein­stei­ger, wie sie nicht auf sich allein gestellt. Sie hos­pi­tie­ren erst einmal, bevor sie einen eige­nen Kurs leiten. „Es ist schön zu sehen, mit wel­chem Ehr­geiz die Schü­ler dabei sind“, staunt sie. Lucie hat vor, nächste Woche wieder zu kommen.

„Es ist schön zu sehen, mit wel­chem Ehr­geiz die Schü­ler dabei sind.“

Ein Kurs dauert zwei Stun­den. Nach der Hälfte der Zeit wird es laut im Gebäude. Die Kinder haben ange­fan­gen im Flur Fuß­ball zu spie­len, was die Kon­zen­tra­tion erschwert. „Es ist schwie­rig mit Kin­dern, die vor und auf der Flucht schlimme Erfah­run­gen gemacht haben“, berich­tet Ludwig. „Sie können sich viel­leicht eine halbe Stunde ruhig ver­hal­ten und spie­len oder bas­teln. Irgend­wann können sie sich aber nicht mehr zusam­men­rei­ßen und stören dann stark. Wir ver­su­chen damit umzu­ge­hen. Aber ich würde mir für die Kids eine geschulte Betreu­ung im gesetz­lich vor­ge­schrie­be­nen Umfang wün­schen. Schließ­lich sind sie beson­ders schutz­be­dürf­tig“, erklärt er. Das Heim in der Motard­straße ist eine Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung. Für trau­ma­ti­sierte Kinder ist dies eine unsi­chere Lebens­si­tua­tion. Des­halb gebe es hier auch mehr Pro­bleme als in per­ma­nen­ten Ber­li­ner Unter­künf­ten, in denen sich die Kinder unter­ein­an­der kennen und gemein­sam zur Schule gehen. Eine wei­tere Schwie­rig­keit sei es, so Ludwig, Frauen mit dem Unter­richt zu errei­chen. Erfah­rungs­ge­mäß seien die meis­ten Schü­ler in der Motard­straße Männer. Aber auch das sei ein spe­zi­fi­sches Pro­blem der Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung. In ande­ren Unter­künf­ten gibt es Lösungs­an­sätze, wie sepa­rate Frau­en­grup­pen, die gut besucht sind.

Ein Erfolg von Mul­ti­tude ist, dass Schü­le­rIn­nen, die ein bestimm­tes Sprach­ni­veau erreicht haben, beim Unter­richt mit­hel­fen können. So wie Hasan aus Syrien, der vor drei Jahren selbst in der Span­dauer Erst­auf­nah­me­ein­rich­tung lebte und als Schü­ler im Deutsch­un­ter­richt von Mul­ti­tude saß. Mitt­ler­weile hat er eine eigene Woh­nung in Berlin. Trotz­dem besucht er regel­mä­ßig die Kurse in Span­dau. „Ich mache hier alles: Unter­richt, Über­set­zen, Kin­der­be­treu­ung“, erzählt er. „Fast alle hier kennen mich.“ Heute läuft er zwi­schen den ver­schie­de­nen Kursräu­men hin und her. Wenn die Unter­richts­kom­mu­ni­ka­tion schwie­rig wird, über­setzt er vom Ara­bi­schen ins Deut­sche und umge­kehrt. Zwi­schen­durch redet und spielt er mit den Kindern.

Gemein­sam Pro­bleme bewältigen

Hinter dem Enga­ge­ment von Mul­ti­tude steckt der Gedanke, Geflüch­te­ten Sprach­kennt­nisse zu ver­mit­teln und sie über ihre Rechte auf­zu­klä­ren, damit sie mög­lichst selbst­be­stimmt in Deutsch­land leben können. Men­schen, die in Deutsch­land ankom­men, haben keinen recht­li­chen Anspruch auf einen Deutsch­kurs, solange ihr Asyl­an­trag nicht aner­kannt ist. Dies kann oft Monate dauern. „Sprach­un­ter­richt ist eigent­lich eine Staats­leis­tung, die wir nicht erset­zen wollen“, erklärt Ludwig, „Unser Gedanke ist, Men­schen zu einer Würde zu ver­hel­fen, indem wir ihnen eine Mög­lich­keit geben, ihre Stimme gel­tend zu machen“.

„Sprach­li­che Erste Hilfe“ nennt er das. Dazu muss man kein aus­ge­bil­de­ter Sprach­leh­rer sein. „Der Wunsch nach Kon­takt ist wich­tig. Es hilft sicher, wenn man schon einmal vor Men­schen gestan­den hat. Aber wir stehen eigent­lich nicht vor Men­schen, wir sind mit ihnen zusam­men“, so Ludwig. Des­halb orga­ni­sie­ren die Mit­glie­der von Mul­ti­tude neben Sprach­kur­sen und Kin­der­be­treu­ung auch Kino- oder Koch­abende und bieten eine Garten-AG an, um die Men­schen von ihrem oft tris­ten Heim­all­tag abzulenken.

“Wir stehen eigent­lich nicht vor Men­schen, wir sind mit ihnen zusammen.”

Mul­ti­tude geht auf die „Initia­tive Deutsch­un­ter­richt“ ein­zel­ner Stu­die­ren­der der FU im Jahr 2001 zurück. Seit 2011 ist aus der Initia­tive ein Verein mit etwa 300 Ehren­amt­li­chen gewor­den. Finan­ziert wird die Arbeit durch Spen­den. Ange­sichts gestie­ge­ner Flücht­lings­zah­len sind die Deutsch­kurse gefrag­ter denn je. Immer mehr Ber­li­ne­rIn­nen möch­ten sich für Geflüch­tete ein­set­zen. „Das Ehren­amt ist ja zur­zeit ziem­lich ange­sagt in Mitte. Es dünnt aber schnell aus, wenn man an die Stadt­rän­der kommt. Dem­entspre­chend sind die meis­ten von uns betreu­ten Unter­künfte in Stadt­tei­len, die nicht so foto­gen sind: Span­dau, Lich­ten­berg, Adlers­hof oder Grünau“, erklärt Ludwig. Die Tat­sa­che, dass Mul­ti­tude vor allem in Rand­be­zir­ken aktiv sei, mache den Unter­schied zu ande­ren ehren­amt­li­chen Pro­jek­ten aus. Als beson­ders moti­vie­rend für die ehren­amt­li­che Tätig­keit beschreibt Ludwig das Gemein­schafts­ge­fühl inner­halb des Ver­eins, aber auch zu sehen, dass die Geflüch­te­ten den Unter­richt gerne besu­chen: „Wir sind die­je­ni­gen die zu ihnen kommen und den ersten Schritt machen und das rech­nen sie einem sehr hoch an.”

Wer bei Mul­ti­tude mit­ma­chen möchte, sollte zunächst ein Ein­stiegs­tref­fen besu­chen. Inter­es­sierte können sich dort über den poli­ti­schen und recht­li­chen Rahmen der Arbeit mit Geflüch­te­ten infor­mie­ren. Zudem werden Didak­tik­work­shops angeboten.

Wei­tere Infos unter: www.multitude-berlin.de