Realität 2.0

Ver­lo­ren in der neuen ver­netz­ten Welt. Kom­mu­ni­ka­tion wird zur Kardinalstugend.

Rea­li­tät ist das, was nicht ver­schwin­det, wenn man auf­hört, daran zu glau­ben. (wusste Phil­ipp K. Dick, Valis-Tri­lo­gie; [amazon asin=3453217276]) Die vir­tu­elle Rea­li­tät dage­gen exis­tiert gar nicht erst, zumin­dest nicht im onto­lo­gi­schen Sinne. Den­noch ist sie da, und die Bevöl­ke­rung dieser Nicht-Rea­li­tät nimmt sie immer mehr als real wahr. Da sie aber nicht sicher sein können, dass die vir­tu­elle Rea­li­tät genauso stabil und bestän­dig wie die echte Rea­li­tät ist, bewei­sen sie die Exis­tenz ihrer selbst so viel­fäl­tig wie nur möglich.

Die eigene Inter­net­seite, min­des­tens fünf ver­schie­dene eMail-Adres­sen, zwei Skype-Accounts, drei ver­schie­dene Mes­sen­ger-Pro­gramme, Pro­file bei Stu­diVZ, MyS­pace und ande­ren Treff­wie­sen bewei­sen nach­hal­tig und aus­führ­lich, dass man tat­säch­lich vir­tu­ell exis­tiert. Natür­lich darf auch die rege Betei­li­gung bei der Foto-Com­mu­nity Flickr und dem Video-Portal You­Tube nicht ver­nach­läs­sigt werden.

Gemein­sam mit zahl­lo­sen Men­schen in der gesam­ten realen Welt wird an dem vir­tu­el­len Kosmos gebas­telt, der ein­deu­tig belegt, dass die echte Welt real ist. So wie, nach man­cher Lesart, Gott kein Wesen ist, son­dern die posi­tive Ener­gie, die zwi­schen den Men­schen ent­steht, so gott­gleich agie­ren die realen Per­so­nen in der vir­tu­el­len Welt und ver­si­chern sich gegen­sei­tig ihrer Exis­tenz. Wer eine eMail- oder Chat-Nach­richt bekommt, muss ja wohl exis­tie­ren. Je mehr eMails und sons­tige Nach­rich­ten jemand bekommt, desto realer ist diese Person.

All diese gegen­sei­ti­gen Exis­tenz­be­weise steh­len nach aktu­el­len Stu­dien nicht nur Zeit, son­dern ver­hin­dern dank stän­di­ger Anwe­sen­heit in der vir­tu­el­len Welt auch das kon­zen­trierte Arbei­ten in der realen. Die Leute reden mehr mit­ein­an­der, werden sich aber immer frem­der. Zu keinem ande­ren Zeit­punkt der Mensch­heits­ge­schichte war Kom­mu­ni­ka­tion quan­ti­ta­tiv so über­wäl­ti­gend und qua­li­ta­tiv so ent­täu­schend. Die ersten Pro­fes­so­ren sehnen sich nach der guten Tugend des prä­zi­sen For­mu­lie­rens zurück. Die zwan­zig Seiten lange eMail beweist zwar aus­führ­lich die Exis­tenz, das eigent­li­che Anlie­gen ver­birgt sich jedoch. Da in der vir­tu­el­len Welt alle glei­cher­ma­ßen irreal sind, kann man sich gegen­sei­tig auch unge­sühnt duzen. Immer häu­fi­ger gerät in Ver­ges­sen­heit, dass da Men­schen mit­ein­an­der kom­mu­ni­zie­ren. Com­mu­nico, ergo sum.

Über Peter Schoh (20 Artikel)
Eher der heiteren Seite des studentischen Lebens zugewandt. Hält Berlin für die tollste Stadt der Welt und glaubt nicht, dass es eine schönere Zeit als die des Studierens gibt.