Berliner werden ist nicht schwer

Ist man erst mal nach Berlin gezo­gen, gewöhnt man sich schnell an das haupt­städ­ti­sche Flair. Viele lässt die Stadt mit ihrem eige­nen Charme ihr Leben lang nicht mehr los.

Überall gibt es was zu entdecken und zu erleben. Ist man erst mal nach Berlin gezogen, gewöhnt man sich schnell an das hauptstädtische Flair. Foto: Albrecht Noack Foto: A. Noack

„Berlin ist laut, ver­dreckt und stinkt – ist es ein Wunder, dass man trinkt?“ Dieses Schild hängt bei meinem Onkel neben der Woh­nungs­tür. Zu ihm führte mich mein erster Weg, als ich aus dem elter­li­chen Dorf in die Welt­stadt Berlin über­sie­delte. Einst­mals hatte er so wie ich den Weg aus der Pro­vinz in die Metro­pole genom­men, um an der Freien Uni­ver­si­tät zu stu­die­ren. Freu­dig erzählte er mir von Ber­lins Wun­dern und Sehens­wür­dig­kei­ten. Bald jedoch wech­selte der Ton­fall von eupho­ri­scher Berlin-Beschrei­bung zu nost­al­gisch-ver­klär­ten Studien-Erinnerungen.

Dass die aktu­elle Rea­li­tät mit den schwär­me­ri­schen Erzäh­lun­gen meines Onkels nicht mehr viele Gemein­sam­kei­ten hat, bemerkte ich bei meinem ersten Knei­pen­be­such. Aus dem eins­ti­gen Under­ground-Insi­der-Tipp war eine schnieke Tou­ris­ten-Kaschemme gewor­den. Das scheint über­haupt Ber­lins Schick­sal zu sein: Jede neue span­nende kleine Szene wird nur wenig später von Hot­spot-Walzen über­rollt. Spä­tes­tens seit der Trö­del­markt an der Straße des 17. Juni in jedem Rei­se­füh­rer als Insi­der­tipp ver­kauft wurde, kaufen Ber­li­ner dort nichts mehr. Ich ent­deckte bald den Alter­na­tiv­ramsch: am Box­ha­ge­ner Platz und am Mau­er­park. Noch kann man dort hin­ge­hen, ver­mut­lich werden sie auch in weni­gen Jahren tou­ris­tisch erschlos­sen sein.

Drei Regeln für Zugezogene, um als Mensch zu gelten

Ich merkte bald: Nur Ber­li­ner dürfen ber­li­nern. Wer nicht min­des­tens zwei Genera­tio­nen Berlin-Blut nach­wei­sen kann, sollte bei seiner Mischung aus Hei­mat­dia­lekt und pri­va­ter Vari­ante von Hoch­deutsch bleiben.

In Berlin wird nicht gelä­chelt – so das Kli­schee. Die Lächel­un­freund­lich­keit der Ber­li­ner Ein­ge­bo­re­nen­schaft und ange­pass­ten Zuge­zo­ge­nen ist tag­täg­lich in der S- und U‑Bahn sowie beim Bäcker, an der Wurst­theke und ande­ren Dienst­leis­tungs­or­ten zu genie­ßen. Aber ab Mittag wurden bereits ver­ein­zelt lächelnde Ber­li­ner gesichtet.

Pro­mi­nente werden igno­riert. Egal wie bekannt oder toll die Person auf der ande­ren Stra­ßen­seite ist – man läuft weder rüber, noch bricht man in Jubel­schreie aus oder bittet gar um ein Auto­gramm. Auch Pro­mi­nente wollen sich in Berlin wohlfühlen.

Es gibt noch eine vierte Regel: Traue keinem Rei­se­füh­rer und schlepp ihn vor allem nicht mit dir herum. Nach den ersten lang­wei­li­gen Rei­se­füh­rer­hin­weis­be­fol­gun­gen hatte ich mir ange­wöhnt, mir zuhause ein Ziel aus­zu­su­chen und dieses dann auf eigene Faust in der Rea­li­tät zu finden. So lernt man Leute kennen und stellt bald fest, dass die Ber­li­ner Unfreund­lich­keit ihren Charme hat.

Irgendwann wird der Kiez zur Berliner Welt

Wie jeder gute Neu-Ber­li­ner war mein Onkel seit Jahren nur noch selten aus seinem Kiez her­aus­ge­kom­men. Wie jeder ein­ge­ses­sene Neu-Ber­li­ner ließ er sich von meinen Ent­de­ckun­gen nicht über­ra­schen, son­dern ver­wies lapi­dar auf die Wand­lungs­fä­hig­keit der Groß­stadt. Wie jeder alte Neu-Ber­li­ner war er seit Jahren nur bei weni­gen kul­tu­rel­len Ver­an­stal­tun­gen gewe­sen – er könne sich bei der Aus­wahl eben kaum ent­schei­den und wolle nie­man­den dadurch belei­di­gen, dass er gerade zu diesem Kon­zert oder jener Aus­stel­lung nicht ging. Also ging er kaum noch zu Kon­zer­ten oder Ausstellungen.

Ich als fri­scher Neu-Ber­li­ner ließ mich gern von der kul­tu­rel­len, sozia­len und kuli­na­ri­schen Viel­falt ver­füh­ren. In den ersten Wochen und Mona­ten ver­ging kaum ein Abend, an dem ich nichts unter­nahm. Inzwi­schen brau­che ich nicht all­abend­lich etwas Neues. Ich habe bereits die ersten Lieb­lings­lo­kale aus­ge­wählt. Berlin ist ein­fach zu groß und meine Lebens­zeit zu knapp, um wirk­lich alles aus­zu­pro­bie­ren. Aber ich liebe diesen lauten, ver­dreck­ten und manch­mal stin­ken­den Moloch.

Über Robert Andres (33 Artikel)
Computerfreak und enthusiastischer Student. Vollblut-Berliner, der beinahe gern Lehrer geworden wäre.