Unschuldig im Stress

Stu­den­ten fühlen sich stän­dig über­las­tet, im Stress und über­mä­ßig gefor­dert. Laut einer Ham­bur­ger Studie ist die stu­den­ti­sche Arbeits­wo­che kürzer als ver­mu­tet und dürfte nicht zu Stress führen.

Julia gehört zu den Buli­mie-Ler­nern. In jedem Semes­ter ver­fällt sie in den selben Teu­fels­kreis von Stress und Hetze: Kurz vor den Klau­su­ren beginnt sie zu lernen, zu pauken, zu büf­feln. Am besten 24 Stun­den am Tag, ohne läs­tige Essens- und Schlaf­pau­sen. Was nicht zum Lern­pen­sum gehört, wird abge­sagt: Elter­li­che Anrufe wim­melt sie ab, Freunde ver­trös­tet sie, ihre Sport­kurse lässt sie aus­fal­len. Das führt aber wider Erwar­ten nicht zu weni­ger Stress. Julia lebt von den Resten im Kühl­schrank, denn für Ein­kau­fen hat sie keine Zeit. Die zwei Lern­wo­chen gehö­ren ihren Auf­zeich­nun­gen, den Büchern und der Biblio­thek. Julia ist im Stress.

Alle sind im Stress

Als Buli­mie-Ler­ne­rin ist Julia kein Ein­zel­fall. Laut den Stu­den­ten­pro­tes­ten im ver­gan­ge­nen Jahr zwingt der Bache­lor Stu­die­rende zu sol­chen Metho­den der Prü­fungs­be­wäl­ti­gung, alle klagen über über­mä­ßig viel Stress. Doch eine Studie der Uni Ham­burg behaup­tet das Gegen­teil: Wir zwin­gen uns selbst – durch „Bum­meln” im Semes­ter. Wir machen uns selber Stress.

Gefühlt viel Stress

Julia hat Augen­ringe und trinkt den zwei­ten Coffee-to-go vor ihrer Nach­mit­tags­vor­le­sung. „Eigent­lich finde ich das Thema inter­es­sant, aber zu Hause arbeite ich die Vorlesungsfo­lien so gut wie nie nach”, stöhnt die 22-Jäh­rige. Julia drückt 20 Stun­den in der Woche die Studien­bank und liegt damit in einem erträg­li­chen Wochen­durch­schnitt. Das klingt nicht nach Stress. Die 20 Stun­den beinhal­ten fünf ver­schie­dene Ver­an­stal­tun­gen mit unter­schied­li­chen The­men­schwer­punk­ten und drei Übun­gen. Ins­ge­samt ergibt das fünf Prü­fun­gen. An zwei Tagen in der Woche arbei­tet sie zusätz­lich. „Ich will mir ja auch etwas leis­ten können”, erklärt die Studentin.

Ohne Stress gehts auch

Natür­lich könnte Julia wäh­rend des Semes­ters flei­ßig ihre Reader lesen, Vor­le­sun­gen nach­ar­bei­ten und Übun­gen schon zu Hause anfer­ti­gen. Ganz ohne Stress. Aber das hat sie in den ver­gan­ge­nen vier Semes­tern nie durch­ge­hal­ten. An vielen Tagen hat sie drei ver­schie­dene Ver­an­stal­tun­gen: eine Vor­le­sung, ein Semi­nar und eine Übung. Das bedeu­tet, sie müsste sich am Vortag für drei ver­schie­dene Themen vor­be­rei­ten – zusätz­lich zu ihren ver­schie­de­ne­nen Ver­an­stal­tun­gen am Vortag. Doch wenn sie nach Hause kommt, fühlt sie sich k.o. und hat nur wenig Elan, zahl­rei­che Texte für den nächs­ten Tag durchzuarbeiten.

Stress selbstgemacht

Wäh­rend jedes Tages einer Semes­ter­wo­che kommt Julia im Schnitt auf fünf unter­schied­li­che Themen. Diens­tag bei­spiels­weise geht sie aus dem Eng­lisch-Auf­bau­kurs direkt in die Grund­la­gen­vor­le­sung zu Steu­er­recht, danach in ein Semi­nar für Mathe­ma­tik. Anschlie­ßend muss sie das Sozio­lo­gie-Semi­nar für Mitt­woch vor­be­rei­ten, zwei Arti­kel über Wirt­schafts­mo­delle durch­ar­bei­ten und eine Fall­stu­die aus­wer­ten. Da fühlt sie sich wenig moti­viert, die Eng­lisch- und Mathe-Haus­auf­ga­ben zu bewäl­ti­gen. Auch das Kapi­tel, das sie als Nach­ar­beit für die Vor­le­sung noch einmal durch­ar­bei­ten wollte, bleibt ungelesen.

Julia wirkt nicht wirk­lich ent­spannt, eher im Stress. Trotz­dem weiß sie, dass sie eigent­lich nur 30 bis 35 Stun­den pro Woche für Stu­dium und Arbeit auf­wen­det, in Prü­fungs­zei­ten natür­lich mehr. Im Ver­gleich zu „nor­ma­len” Ange­stell­ten hat sie außer­halb der Prü­fungs­zeit also gar nicht so viel zu tun. Warum fühlt sie sich dann stär­ker gestresst als Berufs­tä­tige? Ist unsere Defi­ni­tion von Stress in einer Schräg­lage geraten?

Lieber am Stück lernen und ohne Stress lernen

Das Pro­blem liegt offen­bar nicht darin, dass sie absicht­lich „bum­melt”. Meist ist Julia über­las­tet mit dem unter­schied­li­chen Uni­stoff, den sie zu bewäl­ti­gen hat und das macht Stress. Die stän­di­gen Wech­sel zwi­schen den Themenkom­plexen laugen sie aus. Julia spie­gelt wider, was eine Studie der Ham­bur­ger Uni­ver­si­tät fest­ge­stellt hat. Stu­die­rende fühlen sich meist gestress­ter, als sie nach objek­ti­ven Kri­te­rien sein müss­ten. Grund sind laut dem Stu­di­en­lei­ter Prof. Dr. Rolf Schul­meis­ter die Fülle an ver­schie­de­nen The­men­kom­ple­xen und ein feh­len­des Zeitmanagement.

Stress im Studium

Der Stun­den­plan sieht bei den meis­ten aus wie ein Fli­cken­tep­pich. Julia weiß ange­sichts der Stoff­fülle und ‑viel­falt oft nicht, wo sie anfan­gen soll zu lernen. Dadurch fühlt sie sich demo­ti­viert und lässt es lieber gleich. Die Stu­den­tin ver­gleicht ihren Arbeits­all­tag mit dem Stu­dium: „Wenn ich acht Stun­den am Stück an der selben Sache arbeite, fühle ich mich ent­spann­ter, als wenn ich vier Stun­den in der Uni sitze.”

Stress vermeiden durch Planung

Die Ham­bur­ger Studie hat ähn­li­ches fest­ge­stellt. Stu­di­en­lei­ter Schul­meis­ter schließt aus den Ergeb­nis­sen, dass es sinn­vol­ler wäre, die Semi­nare block­weise zu gestal­ten und schon im Semes­ter Prü­fun­gen anzu­bie­ten. Damit sei es ein­fa­cher für die Stu­die­ren­den, ihre Zeit ein­zu­tei­len und ziel­ge­rich­tet zu lernen. Dadurch würde auch das stän­dige Umschal­ten zwi­schen grund­ver­schie­de­nen Lern­be­rei­chen und Kom­ple­xen – der Sprach­kurs spricht völlig andere Hirn­re­gio­nen an als ein Mathe­se­mi­nar – ent­fal­len. So spart man sich den Stress. Bei glei­chem Stu­di­en­auf­wand würden sich die Stu­den­ten deut­lich weni­ger gestresst fühlen.

Seine Zeit sinnvoll einteilen — ohne Stress

Schuld an der Dau­er­über­las­tun­gen ist aber nicht nur der Stu­di­en­auf­bau, son­dern auch jeder selbst. Nur wenige beherr­schen halb­wegs sinn­vol­les Zeit­ma­nage­ment. Kaum jemand nutzt die Pausen zwi­schen den Ver­an­stal­tun­gen zu einem bewuss­ten Umschal­ten, viele reden und grü­beln über Studien­themen. So macht man sich selber Stress. Ein klei­ner Spa­zier­gang, ein Gespräch über Nicht-Stu­dien-Themen oder ein Kaffee helfen, eine Ver­an­stal­tung abzu­schlie­ßen und sich auf eine neue ein­zu­stel­len. Wer Pausen bewusst nutzt und auch beim Lernen zuhause zwi­schen Themen solche Zäsu­ren setzt, trennt zu Tren­nen­des fühl­bar und redu­ziert den Stress deut­lich. Abhilfe kann auch das gele­gent­li­che Aus­schal­ten des Lap­tops bringen.

Digitaler Stress

Die Studie hat fest­ge­stellt, dass die meiste freie Zeit durch das Inter­net „ver­bum­melt” wird. Eigent­lich genügt es, drei- bis fünf­mal pro Tag seine eMails abzu­ru­fen. Es ist effek­ti­ver, zwei Stun­den kon­zen­triert im Inter­net zu recher­chie­ren als stän­dig neben­bei online rum­zu­stö­bern. Das Zau­ber­wort heißt „bewuss­tes Mono­tas­king”. Mul­ti­tas­king, also das gleich­zei­tige Bewäl­ti­gen ver­schie­de­ner Auf­ga­ben, wird oft genug ver­langt. Dabei ist es immer effek­ti­ver, sich einer Auf­gabe kon­zen­triert zu widmen. Man erle­digt sie dann schnel­ler, besser und fühlt sich am Ende des Tages deut­lich weni­ger aus­ge­laugt und erliegt nicht dem Stress.

Forschung zu Stress

Die For­schun­gen zur Über­be­las­tung sollen an meh­re­ren Unis mit ver­schie­de­nen Stu­di­en­gän­gen fort­ge­führt werden. Viel­leicht moti­vie­ren die Stu­di­en­ergeb­nisse die Hoch­schu­len dazu, Anfor­de­run­gen besser auf die Stu­die­ren­den abzu­stim­men und ihnen den Stress am Ende des Semes­ters zu abzu­neh­men. Man­cher­orts helfen bereits Tuto­rien dabei, das Zeit­ma­nage­ment und die Stress-Ver­mei­dung zu ver­bes­sern. Julia orga­ni­siert jetzt einige Aspekte ihres Stu­den­ten­le­bens neu. „In den Pausen gehe ich essen oder trinke Kaffee mit Freun­den. Manch­mal muss ich auch irgend­wel­che Besor­gun­gen machen.” Wirk­lich stress­frei fühlt sich ihr Leben noch nicht an, „aber deut­lich ent­spann­ter als noch im Sommersemester.”

Über Janine Noack (20 Artikel)
Janine studierte von 2009-2012 Geschichte, Politk und Soziologie an der HU Berlin und absolviert derzeit ihren Master in Modern European History an der Universität Cambridge.