Berliner Couchsurfer

Junge Men­schen ver­bes­sern unsere Welt Couch für Couch – und das vor der eige­nen Haustür.

Foto: Albrecht Noack

[Lebens­räume] Couch­sur­fing soll mehr sein als eine Art zu reisen: ein Lebens­ge­fühl, eine Idee, eine Phi­lo­so­phie, um die Welt zu ver­bes­sern. Ber­li­ner Stu­den­ten ziehen Tag für Tag in die Ferne und tref­fen so Leute, die genauso denken wie sie. Doch kann man dafür nicht auch in Berlin blei­ben? Eine Stu­den­ten-WG, ein paar Fla­schen Wein und Bier, ein leerer Aschen­be­cher, die Aus­sicht auf ein inter­es­san­tes Küchen­ge­spräch. Das genügt, damit sich Daniel einen Abend Zeit nimmt. Er stu­diert seit einem Jahr an der Hum­boldt- Uni­ver­si­tät, sitzt mit ein paar Freun­den an dem Tisch in seiner Küche und wartet. Heute Abend soll eine Couch­sur­fe­rin in seine Woh­nung kommen, die er nicht kennt. Ein Jahr lang war er in Viet­nam, Couch­sur­fing kannte er zwar nicht, dem Kli­schee nach sollen solche Leute aber wie er sein: welt­of­fen, neu­gie­rig und ein wenig anders. Kath­rin steckt den Kopf durch die Tür und tritt in die unbe­kannte Woh­nung ein. 21 Jahre ist sie alt und erst frisch aus einem klei­nen Ort bei Frank­furt am Main nach Berlin gezo­gen, um Regio­nal­wis­sen­schaf­ten Afrika-Asien zu stu­die­ren. Morgen kämen zwar ihre Sachen in die neue Woh­nung, aber für das Tref­fen habe sie immer Zeit, sagt sie und zündet sich ihre selbst­ge­drehte Ziga­rette an einer Kerze an. Dass sie damit bei Daniel und seinen Freun­den den Spruch des ster­ben­den See­manns pro­vo­ziert und irgend­wann alle lachen, ist ein gutes Zei­chen. So schnell kann das Eis brechen.

Freiwillig in Nepal

Dann fängt Kath­rin an zu erzäh­len: Nach dem Abi hatte sie sich für einen Frei­wil­li­gen­dienst in Nepal gemel­det. Sie sollte dabei helfen, die frisch instal­lierte Demo­kra­tie zu unter­stüt­zen, über­setzte Texte und besuchte Demos. Noch immer staunt sie, wie diese dort orga­ni­siert werden: Die Kund­ge­bun­gen wurden nicht ange­mel­det, Kath­rin wusste gar nicht, ob über­haupt jemand davon wusste und teil­neh­men würde. Die Sorgen waren grund­los, denn „inner­halb von 15 Minu­ten waren dann plötz­lich alle da, und ich hatte keine Ahnung, wie sie das gemacht haben.“ Irgend­wann fühlte sie sich dem nicht mehr gewach­sen, packte ihre sieben Sachen und zog weiter durch Asien. Finan­ziert hat sie sich dabei durch das Kin­der­geld und ihr Erspar­tes. „Als 12-Jäh­rige wollte ich mir davon noch ein Pferd kaufen“, lacht sie. Als daraus nichts wurde, war für sie klar: Nach dem Abi wird erst mal gereist. So kam sie zu Couch­sur­fing. Mehr als drei Mil­lio­nen Mit­glie­der in 246 Län­dern nutzen das „Gast­freund­schafts­netz­werk“. Der durch­schnitt­li­che Couch­sur­fer ist 28 Jahre alt, die Gruppe im Alter von 18 bis 29 Jahren macht 70 Pro­zent der Mit­glie­der aus, erfährt man in den Couch­sur­fingsta­tist­ken. Aber auch Ältere ent­de­cken den jugend­li­chen Reiz dieses Lebens­ge­fühls. Etwa Dr. Diet­mar Eisen­ham­mer: Der Pen­sio­när ist 67 Jahre alt, hat in der Main­zer Staats­kanz­lei gear­bei­tet und ist begeis­ter­ter Couch­sur­fer. Für ihn hat der Umgang mit jungen Leuten einen „hohen Anti-Aging-Effekt“, wie er jüngst einem Rund­funk­sen­der schil­derte. Die Frage, ob Couch­sur­fen nicht auch gefähr­lich sei, schmet­tert er ab: „Was ist denn im Leben unge­fähr­lich? Ich habe bis­lang nur positve Erfah­run­gen!“ Fast 400 Freunde hat der Jung­ge­blie­bene mitt­ler­weile auf der ganzen Welt.

Welten verändern oder billig pennen?

In der WG-Küche werden die ersten Fla­schen Bier geleert, der Aschen­be­cher füllt sich schnell. Daniel ver­mu­tet, dass die meis­ten Couch­sur­fer das Ange­bot nur nutzen, um Hotel­kos­ten zu sparen. Kath­rin wider­spricht, sie zumin­des­tens habe mit dem Couch­sur­fen in Kam­bo­dscha ange­fan­gen, als sie gar keine Schlaf­mög­lich­keit brauchte, son­dern welt­of­fene Men­schen tref­fen wollte. Doch unbe­rech­tigt sei Dani­els Ein­wand nicht, dank sol­cher Offen­heit ent­de­cken auch klas­si­sche Tou­ris­ten den Rei­se­stil Couch­sur­fing für sich. Für Anne, die auch am Tisch sitzt, ist das in Ord­nung, schließ­lich ver­breite sich so die Idee des Couch­sur­fens schnel­ler. Ein paar Grund­re­geln müss­ten jedoch ein­ge­hal­ten werden, stellt sie klar. Auch wenn man tags­über sein Pro­gramm durch­zieht, abends sollte man dem Gast­ge­ber anbie­ten zu kochen, statt wort­los in die nächste Disko zu ver­schwin­den. Solche Koch­ak­tio­nen seien mehr als nur Nah­rungs­zu­be­rei­tung, son­dern eine Geste, um dem Gast­ge­ber für etwas zu danken, was dieser als selbst­ver­ständ­lich bereit­stellt: Schlaf­platz, Zeit und Für­sorge für den Gast. Kath­rin erzählt von einer beson­de­ren Couch­sur­fing-Bege­ben­heit, die Bekannte erleb­ten: Der Gast­ge­ber hatte schon zuge­sagt, war aber zu der Zeit selber ver­reist. Trotz­dem kein Pro­blem, meinte er: Die Schlüs­sel liegen unter der Fuß­matte, der Kühl­schrank sei gut gefüllt, die zwei Tage solle man sich wie zu Hause fühlen. Ein Ver­trau­ens­be­weis gegen­über Per­so­nen, die bisher nur aus eini­gen Fotos und ein paar Pro­fil­an­ga­ben bestan­den. Die Küchen­runde bewun­dert diese offene Geste. „Manche würden das auch als naiv bezeich­nen“, schmun­zelt Daniel. Doch gerade das Extre­mum dieses Bei­spiels zeigt für ihn, wie wich­tig es ist, Hemm­schwel­len zu über­win­den und sich eine „lebens­wich­tige Nai­vi­tät“ zu bewah­ren. Man kann Couch­sur­fen auch als Teil eines Wer­te­wan­dels mit fol­gen­der Maxime begrei­fen: Du lässt einen Frem­den in deine vier Wände und ver­traust ihm. Dir darf alles Mate­ri­elle in der Woh­nung nicht mehr wert sein als die Mög­lich­keit, einen neuen Freund zu gewin­nen. Denn wer seine Sachen eifer­süch­tig hütet und den unbe­kann­ten Men­schen nicht aus den Augen lässt, kann sich sozial nicht öffnen. Diese Ein­stel­lung wird von den Grün­dern von Couch­sur­fing bewusst geför­dert. Ihr Motto lautet „Mache mit bei der Erschaf­fung einer bes­se­ren Welt – Couch für Couch.“

Berliner Couchs zwischen zwei Buchdeckeln

So ver­brei­ten die Couch­sur­fer ihre Welt­of­fen­heit, manche können damit sogar Geld machen, wie die Blog­ge­rin Chris­tine Neder. Im April 2011 kam ihr Buch „90 Nächte, 90 Betten“ auf den Markt, das Pro­to­koll eines Couch­sur­fings- Selbst­ver­suchs: 90 Nächte lang wech­selte sie täg­lich ihre Gast­ge­ber in Berlin. Sie besuchte die ver­si­ffte Stu­den­ten-WG ebenso wie eine Traum­woh­nung in WG-Mitte mit Kamin und frei­ste­hen­der Mar­mor­wanne. Dar­auf­hin blieb sie an Berlin hängen – und hat mitt­ler­weile eine eigene Woh­nung in Fried­richs­hain. Sie gehört nun zu den 45.000 Couch­sur­fern, welche die deut­sche Haupt­stadt zur dritt­größ­ten Couch­sur­fing-Stadt der Welt machen. Ob man nun auch selber bei ihr über­nach­ten kann? Ihr Profil sagt: „Maybe“. In einem Inter­view für die „Zeit“ wurde Neder gefragt, ob sie häufig von männ­li­chen Couch­sur­fern auf Sex ange­spro­chen werde. Auch Kath­rin hat manche Beden­ken, wenn eine Frau allein bei einem Mann über­nach­tet. Manche Hor­ror­ge­schich­ten prägen sich nun mal ein, ein­zelne Kri­mi­nelle schä­di­gen dann dem Ruf des ganzen Pro­jekts. Um dem ent­ge­gen­zu­wir­ken, setzt Couch­sur­fing auf ein kom­ple­xes Bewer­tungs­sys­tem. Jede Freund­schaft muss kom­men­tiert werden, die gegen­sei­tige Bewer­tung nach einer Über­nach­tung gehört zum guten Ton. Rund 3,8 Mil­lio­nen Mal ging dies erfolg­reich über die Bühne, fast eben­so­viele Freund­schaf­ten ent­stan­den seit der Grün­dung der Seite im Jahr 1999. In der Küchen­runde ist es später Abend gewor­den, die ersten Freunde ver­ab­schie­den sich. Trotz des Umzugs bleibt Kath­rin noch ein wenig länger. Mit Daniel unter­hält sie sich über Südost-Asien und durch­blät­tert Bücher über alte Tem­pel­an­la­gen. Den Freun­den, die sie dort ken­nen­ge­lernt hat, schreibt sie immer noch. In Berlin orga­ni­siert der Ire Wil­liam Camp­bell jeden Mitt­woch ein Couch­sur­fing-Tref­fen im Café Mano in der Ska­lit­zer Straße mit meist über fünf­zig Teil­neh­mern. Einige Ber­li­ner Couch­sur­fer kommen regel­mä­ßig vorbei, Besu­cher aus der ganzen Welt tref­fen sich hier und bewe­gen sich auf einer Wel­len­länge. Doch so einen großen Rahmen braucht es nicht immer. Der Abend in der Küche hat gezeigt: Men­schen müssen nicht ver­rei­sen, die bes­sere Welt kann direkt vor ihrer Haus­tür liegen. Seinen Freun­des­kreis für einige Stun­den ver­las­sen und sich einen Abend lang mit frem­den Men­schen unter­hal­ten – gerade in der eige­nen Stadt kein großer Schritt für ein offe­ne­res Miteinander.

Über Jan Lindenau (25 Artikel)
kann sich nicht daran erinnern, jemals gesagt zu haben, dass er „irgendwas mit Medien machen will“. Ist trotzdem irgendwie Chefredakteur der spree geworden. Große Leidenschaft für Sprache, Literatur, Russland - und ja, Medien.