Keine Wege ohne Risiko
III. Teil – Ungewöhnliche Wege nimmt man von der Gastgeberwahl bis zum Weg nach Hause. Wer sich diesen Wegen öffnet, entdeckt Russlands spannende Seiten – und hat eine Menge Spaß dabei.
Am frühen Abend klingeln wir bei Angela, einer Couchsurferin, die nur ein paar hundert Meter entfernt von Annas Zimmer wohnt. Angela hat uns bei sich aufgenommen, weil sie „alles Deutsche liebt“ und mit zwei Einheimischen Deutsch sprechen will. Als sie einmal in Deutschland war, verguckte sie sich in den Bassisten einer Metalband und reiste seinetwegen durch die halbe Republik und verliebte sich ins Land gleich mit.
Nerd-Frauen als Gastgeberinnen
Wie schon bei Anna leben wir bei Angela in einer Kommunalka mit hoher Kopf-pro-Zimmer-Quote. Doch während wir bei unserem ersten Aufenthalt von den Nachbarn misstrauisch beäugt wurde, erinnert diese Wohnung an ein offenes Studentenwohnheim: Die Mitbewohner sind jung, die Wände sind dünn, lebendige Einblicke ins russische Studentenleben sind inbegriffen. Angela lebt in ihrem kleinen Zimmer mit zwei Mitbewohnerinnen: Yoshi, die eigentlich Ekaterina heißt, und Elena, die die meiste Zeit außer Haus arbeitet. Yoshi ist dafür umso öfter in ihrem Zimmer und verdient sich mit der Programmierung von Homepages was dazu. Sie bezeichnet sich selber als weiblichen Nerd, studiert mit Angela zusammen IT und trägt beim Kennenlernen ein Shirt mit Sheldon aus der Serie „The Big Bang Theory“.
Wir machen unseren mitgebrachten Wein gerade auf, als Angelas Freund hereinspaziert: Schlacksig, ein blonder, langer Pferdeschwanz, schwarzes Bandshirt. Er macht sich daran, das Bett im Zimmer zu reparieren, das schon bessere Jahre hinter sich hatte: Er sucht sich Altholz, das nicht mehr gebraucht wird, sägt sich daraus improvisierte Bettfüße zurecht und nagelt sie anschließend an die Bettplatte. Der Erfolg spricht für ihn: Was am Anfang ziemlich unbequem aussah und wackelte, sieht jetzt zwar immer noch unbequem aus, hält aber für die nächsten Tage wie eine Eins.
Das Abenteuer der Dächer als Geschäftsidee
Am nächsten Tag machen wir eine Tour über die Dächer von St. Petersburg. Wir treffen Kyril, einen sympathischen Russen Ende Zwanzig mit einer abgeschlossenen Ausbildung zum Sommelier. Um seine Telefonnummer unter die Menschen zu bringen, verwendet Kyril eine in Russland beliebte Werbemethode: Er sprayt sie mit einer Schablone auf den Gehweg und wartet darauf, dass er angerufen wird. Zusammen mit Laura, der Amerikanerin, folgen wir ihm in ein Treppenhaus, dass uns auf das Dach eines Blocks direkt am Newskij Prospekt führt. Wir klettern vom Dachboden in den hellen Tag hinaus – und staunen. Die ganze Stadt liegt vor uns. Dadurch, dass die Wohnhäuser in der Altstadt von St. Peterburg ungefähr die selbe Höhe haben, können wir die ganze Stadt überblicken, Sehenswürdigkeiten wie die goldene Spitze der Admiralität oder die Kupel der Isaakskathedrale ragen imposant hervor.
Die Sicherheitsanweisungen von Kyril („Schaut immer hin, wo ihr euren Fuß setzt“) erweisen sich nicht mehr als trivial, als wir eine meterhohe Mauer herunterklettern oder über Lücken in den Dächern springen. Kabel, die laut Kyril unter Starkstrom stehen und sich wild über das ganze Dach spannen, sollten ebenso vermieden werden. Als uns später noch Kyrils Kollege mit einer weiteren Gruppe von Dachkletteren begegnet, wird es eng auf den Dächern, zeigt aber, wie groß die Nachfrage nach einer kleiner Klettertour ist. Für Frischverliebte bringt Kyril, der Dachscout und Weinliebhaber, seine beiden Leidenschaften zusammen und organisiert Weinabende auf den Dächern zum Petersburger Sonnenuntergang.
Als wir nach der zweistündigen Dachtour und einem langen Spaziergang wieder zu Angela kommen, machen wir uns für den Abend bereit. Angela und Yoshi nehmen uns mit in die Dumskaja Uliza, Laura, Anna und ein paar Freundinnen schließen sich uns an. Die Dumskaja ist wie der Simon-Dach-Kiez in Berlin: Viele Bars, viele Menschen, viele Sprachen. In einer Bar mit tanzbarer Musik angekommen, empfehlen uns Yoshi und Angela das Spezialgetränk der Bar, einen höllischen Shot mit Tabasko und unidentifizierbarer roter Flüßigkeit. Es brennt.
Klettertour als Gute-Nacht-Geschichte
Ich kickere mit einem Griechen aus Reutlingen, der in Petersburg bei einer Tabakfirma arbeitet; tanze mit einer Gruppe von feierwütigen Briten; trinke Bier mit einem Russen und seiner einheimischen Schönheit. So verpasse ich die Gelegenheit, mich mit Angela, Yoshi und Martin auf den Nachhauseweg machen und stehe im Morgengrauen alleine vor der Bar. Zu Fuß würde ich eine gute halbe Stunde brauchen, also versuche ich mir für meine restlichen 20 Rubel ein „Auto zu fangen“, ein unlizensiertes Taxi also, das mich ein Stück mitnimmt. Ein vertrauensvoller Mann Mitte 30 schnappt mich auf und bringt mich nach Hause.
Vor der Haustür von Angela angekommen, stelle ich fest, dass die Handys von Angela, Yoshi und Martin entweder ausgeschaltet oder zu leise sind, jedenfalls komme ich nicht dazu, durch die Haustür zu treten. Mit der Kletterexpertise, die ich mir am Nachmittag angeeignet habe, hieve ich mich auf das Vordach des Hauses und lande durch ein kleines Fenster im Hausflur. Auch die Tür der Kommunalka im dritten Obergeschoß ist sicher verriegelt. Über die Hausfassade kletternd, riskiere ich einen Blick nach unten. Bevor mich die Höhenangst packt, erreiche ich ein offenes Fenster, zwänge mich in die Wohnung und schleiche mich in das Zimmer, in dem alle anderen seelenruig schlafen. Mit den beiden ungewöhnlichsten Klettertouren meines Lebens im Gepäck schlafe ich ein.
Die Reise geht weiter. Auf unserer Website Stadtstudenten.de schreibt Jan weiter über seine Erlebnisse, Erfahrungen und Beobachtungen aus Russland.