Allein in der Stadt

Die schiere Men­schen­menge einer Groß­stadt ver­spricht Anony­mi­tät. Doch der tech­ni­sche Fort­schritt macht die Bewoh­ner trans­pa­ren­ter, als man denkt. 

Anonym wohnen in Berlin? (Foto: Albrecht Noack)

Als ich klein war, wuchs ich in einem Dorf auf. Nicht mal hun­dert Ein­woh­ner. Jeder kannte jeden und wusste über jeden Bescheid. Die Alten schwatz­ten über die Anony­mi­tät der Groß­stadt, wenn wieder ein Toter gefun­den wurde, der wochen­lang auf seine Ent­de­ckung warten musste. In ihrer Vor­stel­lung waren die Städ­ter alleine, ohne Bekannte und ohne Freunde. Als ich älter wurde, wollte ich es selbst mal aus­pro­bie­ren. Raus aus der Gerüch­te­kü­che und rein in die anonyme Frei­heit. Besof­fen in den Club kotzen, kein Pro- blem, dann geht man das nächste Mal woan­ders hin. An fünf ver­schie­de­nen Tagen fünf ver­schie­dene Typen mit nach Hause nehmen, kein Pro­blem, die Nach­barn kennen einen ja nicht. So ist es auch nicht schwie­rig, sich in der großen Stadt zu ver­lie­ren und ein­fach mal unge­stört zu sein.

Das Alleinsein abschaffen

Gerade am Anfang bin ich viel raus­ge­gan­gen und habe mich mit Leuten getrof­fen, die ich im Inter­net ken­nen­ge­lernt habe. Man kann sich auch in Sport­ver­ei­nen oder durch andere Hobbys mit Men­schen anfreun­den. Stu­den­ten haben zudem den Vor­teil, dass sie an der Uni auf Gleich­alt­rige und Gleich­ge­sinnte tref­fen. Sind erst mal Freund­schaf­ten geschlos­sen und Bekannte ken­nen­ge­lernt, ist man über­all nur so lange anonym, solange man ihnen nicht begegnet.

Anonym Wohnen in Berlin

Wie weit jedoch schein­bare und reale Anony­mi­tät von­ein­an­der abwei­chen, sieht man im Fall des im Okto­ber 2011 gefass­ten Auto­brand­stif­ters André H. Allein die Über­wa­chungs­bil­der der öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­tel führ­ten zu seiner Ver­haf­tung. Als ich anfangs in Berlin ankam, sind mir die vielen Kame­ras noch auf­ge­fal­len, doch mitt­ler­weile bin ich abge­stumpft. Erst wenn man bewusst darauf achtet, tau­chen die stum­men Beob­ach­ter über­all auf. In Bank­fi­lia­len, Ein­kaufs­zen­tren, Bahn­hö­fen, an Haus­fas­sa­den und in den Händen von Poli­zis­ten und Touristen.

Anonym bekannt

Ich weiß nicht, in wie vielen Inter­net­vi­deos ich unge­woll­ter Neben­dar­stel­ler bin, nur auf­grund der Tat­sa­che, dass ich mich in dieser Stadt bewege. Wie viele Minu­ten oder Stun­den Video­ma­te­rial mit meinem Gesicht sind momen­tan im Spei­cher der Sicher­heits­fir­men? Auch inter­es­sant: Wie oft wurde mein Handy bei einer Funk­ze­l­len­über­wa­chung erfasst? Im Zusam­men­hang mit den Auto­brand­stif­tun­gen hat die Ber­li­ner Poli­zei seit 2009 Mil­lio­nen Ver­kehrs­da­ten von Mobil­funk­te­le­fo­nen abge­fragt. Ein­zi­ges Kri­te­rium war der Auf­ent­halt in einem betrof­fe­nen Kiez, zum Bei­spiel Fried- richs­hain. Doch eigent­lich braucht es nicht mal mehr das Handy, um erfasst zu werden. Es genügt, beklei­det zu sein.

Dank Technik überall bekannt

Der Daten­schutz­ver­ein FoeBud warnt, dass durch den Ein­satz von RFID- Chips in Klei­dung Per­so­nen geor­tet und Bewe­gungs­pro­file von ihnen erstellt werden können. Er sieht das Recht auf infor­ma­tio­nelle Selbst­be­stim­mung in Gefahr. RFID bedeu­tet Radio Fre­quency Iden­ti­fi­ca­tion, und die Chips werden von Her­stel­lern und Händ­lern vor allem für logis­ti­sche Zwecke benutzt. Jeder Chip ent­hält eine welt­weit ein­zig­ar­tige Seri­en­num­mer und über­steht sogar die Wasch­ma­schine. Vor dem Ver­kauf der Ware werden die meist ein­ge­näh­ten Chips nicht ent­fernt, und nur selten werden die Kunden auf sie hin­ge­wie­sen. Viel­leicht keine allzu ferne Zukunfts­mu­sik, wenn mir ein Ver­käu­fer, sofort nach­dem ich den Laden betre­ten habe, eine Bluse zeigen will, die per­fekt zu meinem neuen Rock passt, den ich soeben zwei Stra­ßen weiter gekauft habe. Doch nicht nur in Klei­dern befin­den sich diese Chips, auch die neuen Per­so­nal­aus­weise haben sie. Dort werden alle Aus­weis­da­ten inklu­sive dem Foto sowie die frei­wil­lig abzu­ge­ben­den Fin­ger­ab­drü­cke ver­schlüs­selt gespei­chert. Die Sicher­heit der Ver­schlüs­se­lung bestimmt also die Sicher­heit des Per­so­nal­aus­wei­ses. Doch ob die Ver­schlüs­se­lung die zehn Jahre durch­hält, die der Aus­weis gültig ist, lässt sich heute noch nicht sagen.

Anonym leben in Berlin

Um sich in dieser Stadt also wirk­lich anonym zu bewe­gen, muss man schon mit Maske, in selbst genäh­ter Klei­dung, ohne Handy und ohne Per­so­nal­aus­weis auf die Straße gehen. Wie all­tags­taug­lich das ist, kann jeder gern selbst aus­pro­bie­ren. Doch trotz all dieser Annä­he­run­gen unter­schei­den sich die Ver­hält­nisse in der Groß­stadt noch sehr von denen im Dorf mit seinen hun­dert Einwohnern.