Allein in der Stadt
Die schiere Menschenmenge einer Großstadt verspricht Anonymität. Doch der technische Fortschritt macht die Bewohner transparenter, als man denkt.
Als ich klein war, wuchs ich in einem Dorf auf. Nicht mal hundert Einwohner. Jeder kannte jeden und wusste über jeden Bescheid. Die Alten schwatzten über die Anonymität der Großstadt, wenn wieder ein Toter gefunden wurde, der wochenlang auf seine Entdeckung warten musste. In ihrer Vorstellung waren die Städter alleine, ohne Bekannte und ohne Freunde. Als ich älter wurde, wollte ich es selbst mal ausprobieren. Raus aus der Gerüchteküche und rein in die anonyme Freiheit. Besoffen in den Club kotzen, kein Pro- blem, dann geht man das nächste Mal woanders hin. An fünf verschiedenen Tagen fünf verschiedene Typen mit nach Hause nehmen, kein Problem, die Nachbarn kennen einen ja nicht. So ist es auch nicht schwierig, sich in der großen Stadt zu verlieren und einfach mal ungestört zu sein.
Das Alleinsein abschaffen
Gerade am Anfang bin ich viel rausgegangen und habe mich mit Leuten getroffen, die ich im Internet kennengelernt habe. Man kann sich auch in Sportvereinen oder durch andere Hobbys mit Menschen anfreunden. Studenten haben zudem den Vorteil, dass sie an der Uni auf Gleichaltrige und Gleichgesinnte treffen. Sind erst mal Freundschaften geschlossen und Bekannte kennengelernt, ist man überall nur so lange anonym, solange man ihnen nicht begegnet.
Anonym Wohnen in Berlin
Wie weit jedoch scheinbare und reale Anonymität voneinander abweichen, sieht man im Fall des im Oktober 2011 gefassten Autobrandstifters André H. Allein die Überwachungsbilder der öffentlichen Verkehrsmittel führten zu seiner Verhaftung. Als ich anfangs in Berlin ankam, sind mir die vielen Kameras noch aufgefallen, doch mittlerweile bin ich abgestumpft. Erst wenn man bewusst darauf achtet, tauchen die stummen Beobachter überall auf. In Bankfilialen, Einkaufszentren, Bahnhöfen, an Hausfassaden und in den Händen von Polizisten und Touristen.
Anonym bekannt
Ich weiß nicht, in wie vielen Internetvideos ich ungewollter Nebendarsteller bin, nur aufgrund der Tatsache, dass ich mich in dieser Stadt bewege. Wie viele Minuten oder Stunden Videomaterial mit meinem Gesicht sind momentan im Speicher der Sicherheitsfirmen? Auch interessant: Wie oft wurde mein Handy bei einer Funkzellenüberwachung erfasst? Im Zusammenhang mit den Autobrandstiftungen hat die Berliner Polizei seit 2009 Millionen Verkehrsdaten von Mobilfunktelefonen abgefragt. Einziges Kriterium war der Aufenthalt in einem betroffenen Kiez, zum Beispiel Fried- richshain. Doch eigentlich braucht es nicht mal mehr das Handy, um erfasst zu werden. Es genügt, bekleidet zu sein.
Dank Technik überall bekannt
Der Datenschutzverein FoeBud warnt, dass durch den Einsatz von RFID- Chips in Kleidung Personen geortet und Bewegungsprofile von ihnen erstellt werden können. Er sieht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in Gefahr. RFID bedeutet Radio Frequency Identification, und die Chips werden von Herstellern und Händlern vor allem für logistische Zwecke benutzt. Jeder Chip enthält eine weltweit einzigartige Seriennummer und übersteht sogar die Waschmaschine. Vor dem Verkauf der Ware werden die meist eingenähten Chips nicht entfernt, und nur selten werden die Kunden auf sie hingewiesen. Vielleicht keine allzu ferne Zukunftsmusik, wenn mir ein Verkäufer, sofort nachdem ich den Laden betreten habe, eine Bluse zeigen will, die perfekt zu meinem neuen Rock passt, den ich soeben zwei Straßen weiter gekauft habe. Doch nicht nur in Kleidern befinden sich diese Chips, auch die neuen Personalausweise haben sie. Dort werden alle Ausweisdaten inklusive dem Foto sowie die freiwillig abzugebenden Fingerabdrücke verschlüsselt gespeichert. Die Sicherheit der Verschlüsselung bestimmt also die Sicherheit des Personalausweises. Doch ob die Verschlüsselung die zehn Jahre durchhält, die der Ausweis gültig ist, lässt sich heute noch nicht sagen.
Anonym leben in Berlin
Um sich in dieser Stadt also wirklich anonym zu bewegen, muss man schon mit Maske, in selbst genähter Kleidung, ohne Handy und ohne Personalausweis auf die Straße gehen. Wie alltagstauglich das ist, kann jeder gern selbst ausprobieren. Doch trotz all dieser Annäherungen unterscheiden sich die Verhältnisse in der Großstadt noch sehr von denen im Dorf mit seinen hundert Einwohnern.