Schottland: Studieren in Glasgow

Schon immer wollte ich ins Aus­land. Und jetzt hatte es geklappt: ich bekam einen der Aus­tausch­plätze des anglis­ti­schen Fach­be­rei­ches. In ein paar Mona­ten würde ich nach Glas­gow gehen.

Pein­lich war erst einmal, dass ich noch nicht einmal wusste, wo sich die Stadt befin­det: als erstes musste ich den Atlas befra­gen. Schott­land also. Aha. Mit diesem Land hatte ich mich bis dahin noch nie beschäf­tigt. Ich dachte, Schott­land­fans seien vor allem Men­schen mit wal­len­dem Haar in langen bunten Röcken und Nor­we­ger­pul­lis, die stän­dig auf Folk­kon­zerte gingen und von dem abwechs­lungs­rei­chen Wetter und den male­ri­schen Regen­wol­ken Schott­lands schwärm­ten. Brr. Ich war immer lieber ins Warme gefah­ren. Es wurde also Zeit, etwas Neues auszuprobieren.

Man sollte nicht ver­su­chen, sich anhand des Films “Train­spot­ting” sprach­lich auf Glas­gow ein­zu­stel­len: ers­tens ist das eine völlig ent­mu­ti­gende Erfah­rung (ich habe fast kein Wort ver­stan­den!), und zwei­tens stam­men die Schau­spie­ler aus Edin­burgh. Wenigs­tens war ich bei meiner Ankunft am — natür­lich ver­reg­ne­ten — Flug­ha­fen von Glas­gow nicht über­rascht, als ich weder den Taxi­fah­rer noch irgend einen der übri­gen Leute ver­ste­hen konnte, die mir helfen woll­ten. Das Motto der Stadt ist übri­gens “Glas­gow — the friendly city”. Man braucht sich nur mit einer Karte in der Hand an irgend­eine Stra­ßen­ecke zu stel­len, und sofort wollen min­des­tens zwei bis drei nette Glas­we­gi­ans helfen. Es dauert aller­dings eine Weile, bis man sie ver­steht… Der “patter” ist ein unglaub­lich brei­ter Akzent, auf den die Glas­we­gi­ans sehr stolz sind.

Der besagte Taxi­fah­rer jeden­falls fuhr mich zur Uni­ver­sity of Glas­gow, wo ich einen Zim­mer­schlüs­sel und eine Fahrt zu meiner Unter­kunft bekam. Ich hatte ris­kan­ter Weise schon von Deutsch­land aus zuge­stimmt, ein Zimmer von der Uni zu mieten. Dieses erschien mir im ersten Augen­blick auch als der reinste Horror: klein und braun möbliert, dazu im Tief­par­terre mit Blick auf das ver­reg­nete Pflas­ter- und dafür 200 Pfund? Aller­dings sind pri­vate Woh­nun­gen kaum bil­li­ger, und wer hat schon den Nerv, direkt nach der Ankunft in einem neuen Land auf Woh­nungs­su­che zu gehen?

Meine Mit­be­woh­ne­rin­nen erwie­sen sich schließ­lich als so nett, dass ich gar nicht mehr gehen wollte. Unsere Woh­nung befand sich auch in opti­ma­ler Lage: auf einem Hügel über der Stadt gele­gen, trennt nur der große Kel­vin­g­rove Park das Wohn­heim “Park Circus Place”, das übri­gens denk­mal­ge­schützt ist, von der Uni­ver­sity of Glas­gow. Auch das Stadt­zen­trum kann man zu Fuß errei­chen (und ebenso den Lidl, den ein­zi­gen Ort, an dem ich mir das Ein­kau­fen leis­ten konnte).

Über­haupt hat die Stadt genau die rich­tige Größe für Fuß­gän­ger. Es gibt zwar eine U‑Bahn, diese fährt aller­dings nur auf einer Linie im Kreis (und wird daher “Clock­work Orange” genannt) und bis 23.30 Uhr, sonn­tags sogar nur bis 18 Uhr! Man muss also laufen oder Taxi fahren. Mit ihren 610 000 Ein­woh­nern ist Glas­gow die größte Stadt Schott­lands. Den­noch bleibt sie über­sicht­lich. Ich habe mich sehr schnell zu Hause gefühlt, zumal Glas­gow eine sehr offene Atmo­sphäre hat. Allein schon die zahl­rei­chen Aus­län­der tragen dazu bei, dass man sich nicht fremd fühlt. So kommen 11 Pro­zent der Stu­den­ten an “meiner” Uni aus Län­dern außer­halb des Königreiches.

Über­haupt ist die Stadt von Gegen­sät­zen bestimmt. Spuren ver­schie­de­ner Epo­chen sind über­all zu ent­de­cken: wun­der­schöne vik­to­ria­ni­sche Fas­sa­den stehen neben abbruch­rei­fen Miets­ka­ser­nen, his­to­ri­sche Gebäude wie die Kathe­drale sind von moder­nen Häu­sern umge­ben. Glas­gow hat unter­schied­li­che Phasen durch­lebt: im 18. Jahr­hun­dert war sie eine der reichs­ten Indus­trie- und Han­dels­städte Euro­pas. Unter der Welt­wirt­schafts­krise hatte Glas­gow sehr zu leiden. Außer­halb des Zen­trums wurden damals bil­lige Miets­ka­ser­nen erbaut, die schnell zu Slums ver­ka­men. Heute noch ist diese Gegend, die “Gor­bals”, bei­nahe unver­än­dert. Der Lebens­stan­dard ist tat­säch­lich nicht mit dem deut­schen zu vergleichen.

Eins der schöns­ten Gebäude der Stadt ist die Uni­ver­sity of Glas­gow, ein neo­go­ti­scher Bau. Ihre Türme ragen über die ganze Stadt. Natür­lich gibt es noch wei­tere Hoch­schu­len in Glas­gow. Die berühmte Glas­gow School of Art wurde von Charles Rennie Mack­in­tosh, einem her­aus­ra­gen­den Jugend­stil­ar­chi­tek­ten, ent­wor­fen und hat heute noch einen sehr guten Ruf. Außer­dem gibt es die Stra­th­clyde Uni­ver­sity, die vor allem auf tech­ni­sche Fächer spe­zia­li­siert ist, und die Cale­do­nian Uni­ver­sity, an der haupt­säch­lich Sozi­al­wis­sen­schaf­ten gelehrt werden. “Meine” Uni ist aller­dings natür­lich die schönste. Im Jahre 1451 gegrün­det, ist sie die viert­äl­teste Groß­bri­tan­ni­ens. Glas­gow Uni­ver­sity rühmt sich mit ihren pro­mi­nen­ten Ehe­ma­li­gen, wie z.B. Lord Kelvin, Adam Smith, James Watt und John Logie Baird.

Es ist ein ganz ande­res Gefühl, in diesen ehr­wür­di­gen Hallen zu sitzen anstatt in der Rost­laube der [int­link id=“637” type=“post”]FU[/intlink]! Das Foyer der Uni zum Bei­spiel ähnelt dem Kreuz­gang eines Klos­ters, viele Vor­le­sungs­räume befin­den sich in den zwei­hun­dert Jahre alten Türmen. Aller­dings kann die Düs­ter­keit des Gebäu­des auch sehr bedrü­ckend wirken, vor allem, wenn man einmal das Abschluss­ze­re­mo­ni­ell gese­hen hat, bei dem die Absol­ven­ten tat­säch­lich Talare und Kopf­be­de­ckun­gen mit dem Wappen ihres jewei­li­gen Fach­be­rei­ches tragen!

Auch das Stu­dium selbst ist völlig anders auf­ge­baut als in Deutsch­land. Schon in der “Fresher’s Week”, der Ein­füh­rungs­wo­che, wurde mir klar, dass ich zu den ältes­ten Stu­den­ten gehö­ren würde: die Erst­se­mes­ter sind größ­ten­teils 17 Jahre alt und zum ersten Mal von zu Hause weg. Anfangs hatte ich mich geär­gert, dass ich vom Stu­den­ten­werk in eine WG mit wei­te­ren Eras­mus-Stu­den­ten gesteckt wurde. Jetzt wurde mir aller­dings klar, dass ich sonst sicher ein Alters­pro­blem gehabt hätte.

Mit 21 haben die meis­ten Schot­ten ihren ersten Degree schon in der Tasche, etwa die Hälfte aller Stu­den­ten ver­lässt dann die Uni. Stu­den­ten, die bei ihrem Stu­di­en­be­ginn älter als 21 sind, heißen hier “mature stu­dents”, also “erwach­sene Stu­den­ten”! Dazu zählen nur 12 Pro­zent aller Studenten.

Im Gegen­satz zum deut­schen Stu­di­en­sys­tem ist auch das geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Stu­dium in Glas­gow streng gere­gelt, die Semi­nare bauen nach einem “Modul­sys­tem” auf­ein­an­der auf. Dabei gibt es natür­lich viel weni­ger Wahl­mög­lich­kei­ten, man hat aber eher das Gefühl, einen all­ge­mei­nen Über­blick zu gewin­nen. Es gibt auch keine wirk­li­chen Haus­ar­bei­ten, statt­des­sen werden mehr­mals im Semes­ter kür­zere Essays und Klau­su­ren geschrieben.

Erfreu­lich fand ich die Offen­heit der Uni: ich konnte Semi­nare in ver­schie­de­nen Fach­be­rei­chen bele­gen, nicht nur in meinem Aus­tausch­fach Anglis­tik. Also stu­dierte ich “Scot­tish Lite­ra­ture” (der ein­zige Fach­be­reich für Schot­ti­sche Lite­ra­tur auf der Welt ist der der Uni Glas­gow) und Phi­lo­so­phie. Posi­tiv über­rascht war ich von der per­fek­ten Betreu­ung der Eras­mus­stu­den­ten in Glas­gow. In Deutsch­land hatte man mich eigent­lich mir selbst über­las­sen, hier dage­gen traf ich mich mehr­mals mit meinem “per­sön­li­chen” Advi­sor, der mir alle Fragen beant­wor­ten konnte.

Natür­lich hat das bri­ti­sche Stu­di­en­sys­tem auch Nach­teile. Die Gebüh­ren sind sehr hoch. Aus­län­di­sche “Under­gra­dua­tes” zahlen pro Semes­ter in den Geis­tes­wis­sen­schaf­ten 6.730 Pfund, in den Inge­nieurs­wis­sen­schaf­ten 8.800 Pfund, für Medi­zi­ner beträgt die Summe sogar 13.240 Pfund. Stu­den­ten aus Groß­bri­tan­nien und der EU zahlen 1.000 Pfund pro Semes­ter. In den höhe­ren Semes­tern stei­gen diese Beträge sogar noch an. Daher sind Sti­pen­dien oder Aus­tausch­pro­gramme für den deut­schen Nor­mal­stu­den­ten tat­säch­lich der ein­zige Weg, in Groß­bri­tan­nien stu­die­ren zu können.

Aller­dings erhal­ten Stu­den­ten in den meis­ten Geschäf­ten hohe Ermä­ßi­gun­gen, sogar in Gemü­seläden und Super­märk­ten zahlt man mit Stu­den­ten­aus­weis bis zu 30 Pro­zent weniger.

Ganz beson­ders erwäh­nens­wert ist das kul­tu­relle Leben der Stadt. Seit Glas­gow 1990 zur euro­päi­schen Kul­tur­haupt­stadt gewählt wurde, hat sich eini­ges getan. Lange galt die Stadt als abge­ta­kelte Indus­trie­stadt ohne Arbeits­plätze und Frei­zeit­an­ge­bote. Zum Glück trifft dieses Urteil aber über­haupt nicht zu. 1999 war Glas­gow die “bri­ti­sche Stadt der Kunst und der Archi­tek­tur”, was sich in den vielen neuen Aus­stel­lun­gen und Gale­rien bemerk­bar machte. Über­haupt gibt es etwa 40 Museen und Gale­rien. Das Bemer­kens­werte ist, dass die staat­li­chen umsonst sind — bei den bri­ti­schen Prei­sen beson­ders erfreu­lich. Beson­ders zu emp­feh­len ist die Gal­lery of Modern Art. Ein Geheim­tipp ist die Shar­m­anka-Gal­lery, die bewegte Instal­la­tio­nen eines rus­si­schen Künst­lers zeigt. Auch in der Uni­ver­sity of Glas­gow gibt es zwei Museen: die Hun­te­rian Art Gal­lery und das Hun­te­rian Museum.

Auch das Nacht­le­ben ist beein­dru­ckend. Am Wochen­ende sind die Stras­sen gedrängt voll, jeder ver­sucht, vor 24 Uhr, wenn die Pubs schlie­ßen, mög­lichst betrun­ken zu sein. Happy Hour ist meis­tens schon ab 17 Uhr. Wer glaubt, in Deutsch­land würde viel Bier getrun­ken, der war noch nicht in Schottland…

Nach dem Pub geht es weiter in einen der zahl­rei­chen Clubs, in denen meis­tens elek­tro­ni­sche Musik gespielt wird. Beson­ders emp­feh­lens­wert ist das G2, ein Club, in dem Kon­zerte für den BBC auf­ge­nom­men werden. Hier ist der Ein­tritt frei. Natür­lich kann man auch die tra­di­tio­nelle Seite Schott­lands ent­de­cken: Céi­lidh, ein merk­wür­di­ger kel­ti­scher Tanz (hier kann man tat­säch­lich mit Män­nern in Röcken tanzen!), das jähr­li­che Burns-Supper am Geburts­tag des Natio­nal­dich­ters Robert Burns (mit Lesun­gen, Haggis (gefüll­tem Schafs­ma­gen) und den “wee drams”, klei­nen Glä­sern Whisky), Celtic Con­nec­tions, ein jähr­li­ches Musik­fes­ti­val. Was man sich auf keinen Fall ent­ge­hen lassen sollte, ist “The Barras”, ein Hal­len­floh­markt, in dem alles von “bacco” (Tabak) über Klei­dung und Elek­tro­ge­räte aller Art ver­kauft wird. Hier kann man vor allem der wirk­lich beson­de­ren Spra­che der Glas­we­gi­ans zuhö­ren. Eine andere Mög­lich­keit dazu ist der Besuch eines Fuß­ball­spiels zwi­schen den beiden Teams der Stadt: “Celtic” und “Ran­gers”.

Es gibt wun­der­schöne Aus­flugs­ziele in der Umge­bung. Die High­lands begin­nen direkt nebenan, das Meer ist sehr nah, und auch Edin­burgh ist nur andert­halb Stun­den ent­fernt. Auch die Isle of Skye ist sehens­wert. Schott­land ist so viel­sei­tig und schön, dass ich inzwi­schen sogar die Schott­land­fans mit ihrem Natur­tick verstehe…

 

Anmer­kung der Redak­tion: Der Arti­kel ent­stand im Jahr 2000 und wurde 2011 aktua­li­siert. In Folge dessen wurden Bilder und Links hin­zu­ge­fügt, sowie ver­al­tete Zahlen erneuert.

 

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