’68 ist lange her

Demons­tra­tio­nen und bru­tale Straßenschlachten

prägen die Erin­ne­run­gen an die revolutionäre

Bewe­gung der Stu­den­ten in West-

Deutsch­land. Es ging einer­seits gegen die

auto­ri­tä­ren Struk­tu­ren der Hoch­schu­len, den

Kampf gegen den erdrü­cken­den Kapitalismus

und gegen den Viet­nam­krieg. Andererseits

wurde nicht nur der jungen Genera­tion bewusst,

dass Ver­än­de­run­gen in Deutsch­land notwendig

waren. So brach­ten sie die ersten Alten

zum Bei­spiel dazu ein­zu­se­hen, dass die schlichte

Ver­drän­gung der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Vergangenheit

keine Lösung mehr dar­stellte, sondern

ver­ar­bei­tet werden musste. Im Grunde

war man sich einig, dass Deutsch­land demokratischer

werden sollte.

Die Stu­den­ten schlos­sen sich zu Gruppen

zusam­men, die aus unter­schied­lichs­ten Ideologien

han­del­ten ? auf der einen Seite der Sozialistische

Deut­sche Stu­den­ten­bund mit seinem

?Marsch durch die Insti­tu­tio­nen? und die Außerparlamentarische

Oppo­si­tion mit ihrer Parole

?Macht kaputt, was euch kaputt macht.? Auf

der ande­ren Seite die ?Kri­ti­sche Uni­ver­si­tät?, die

mit eige­nen Ver­an­stal­tun­gen und Diskussionsrunden

eine eigene Gesell­schafts­kri­tik erarbeitete.

Oder wieder andere, von Willy Brandts Satz

?Wir wollen mehr Demo­kra­tie wagen? fasziniert,

enga­gier­ten sich in Bür­ger­initia­ti­ven, um politisches

Inter­esse zu wecken. Alle wurden von

dem­sel­ben Grund­ge­dan­ken gelei­tet: Man muss

die Zukunft selbst in die Hand nehmen, um etwas

zu ändern.

Ver­än­de­run­gen

Stu­den­ten­be­we­gun­gen werden immer mit der Zeit der 68er ver­gli­chen. Foto: Albrecht Noack 

Sie haben etwas ver­än­dert: Säßen sonst

heute Stu­den­ten in Insti­tuts­rä­ten oder Fachbereichsräten;

gäbe es heute selbst gegründete

Fach­schaf­ten? Nein. Hätten die Stu­den­ten keine

anti­au­to­ri­täre Erzie­hung pro­pa­giert und gegen

das kon­ser­va­tive System rebel­liert, würden

wir heute immer noch das spie­ßige Patriarchat

unse­rer Groß­el­tern leben, nicht wahr? Vielleicht

war aber auch ein­fach die Zeit reif für Veränderung,

und das Hel­den­tum der dama­li­gen Zeit

wird nur zum Mythos über­stei­gert, weil dieses

Phä­no­men des Auf­ste­hens zum ersten Mal

nach 1945 prak­ti­ziert wurde.

Doch brau­chen wir heute nicht genauso

Ver­än­de­rung wie damals? Natür­lich kann man

die Pro­bleme von heute nicht mit vergangenen

Vor­stel­lun­gen lösen. Unsere Gesell­schaft heute

gibt sich off ener und tole­ran­ter, Miss­stände sind

nicht so off enkun­dig, son­dern sub­ti­ler; die großen

Umschwünge hin­sicht­lich eines demokratischeren

Deutsch­lands sind erreicht, aber ist beispielsweise

Arbeits­lo­sig­keit wirk­lich solch ein

sub­ti­les Thema? Wir stehen vor Pro­ble­men wie

Glo­ba­li­sie­rung, Kli­ma­wan­del und erschreckenden

demo­grafi schen Ent­wick­lun­gen. Inmit­ten dieser Pro­bleme ver­sucht ein junger Mensch,

sich ein Leben auf­zu­bauen und soll gleichzeitig

poli­tisch aktiv werden. Immer wieder hören wir

Aus­sa­gen wie ?Die junge Genera­tion von heute

wird Pro­bleme haben, einen Job zu finden, das

Leben wird härter, und jeder muss versuchen,

sich vom ande­ren durch noch bes­sere Leistungen

abzu­gren­zen.?

Iden­ti­fi­ka­tion

In einer Welt, die sich seit 1968 weiter gedreht

hat, ver­sucht sich der junge Stu­dent ebenso wie

der junge Azubi eine mög­lichst gute Ausgangssituation

zu ver­schaf­fen. Denn wir alle wissen

nicht, ob wir gebraucht werden wie einst die

68er Genera­tion, die auch mit verlängertem,

sogar mit abge­bro­che­nem Stu­dium noch Aussicht

auf Arbeit hatte.

Im Zuge des Bolo­gn­a­pro­zes­ses planen die

meis­ten jungen Leute bereits wäh­rend des Studiums

ihre Lauf­bahn, suchen pas­sende Praktikumsplätze

und ver­su­chen neben­bei, die

Stu­dien gebüh­ren durch Aus­hilfs­jobs zu finanzieren.

Kein Wunder, dass der revo­lu­tio­näre Geist

der Stu­den­ten bemän­gelt wird. Aber wo bleibt

uns ers­tens denn die Zeit zum demonstrieren

und zwei­tens fehlt vielen die Iden­ti­fi­ka­tion mit

ihrer Hoch­schule, die zum Hauptverursacher

des zeit­li­chen Drucks, aber auch zur Nebenrolle

zwi­schen Job, Prak­ti­kum, Pri­vat­le­ben und Studium

gewor­den ist. Also ist poli­ti­sches Engagement

bei Stu­die­ren­den tat­säch­lich Luxus oder

alles nur eine faule Aus­rede, um den Vorwürfen

der Alt-Revo­lu­tio­nä­ren zu entkommen?

Ob man es nun hören will oder nicht: Protestpotenzial

schlum­mert theo­re­tisch in jedem. Aber

die Unsi­cher­heit der Zukunft bildet die Problematik

im Heute: Zwar müss­ten die Zustände der

Genera­tion Prak­ti­kum die Stu­den­ten im Grunde

auf die Bar­ri­ka­den führen, auch wenn sie dadurch

Semes­ter ver­lie­ren. Doch die Sehn­sucht nach der

erwünsch­ten Sicher­heit über­wiegt, sodass sich

Stu­den­ten immer mehr zu zwangsfl exi­blen Egoisten

ent­wi­ckeln müssen.