Der kleine Unterschied

[Inter­view] Männ­lein oder Weib­lein? Warum ist das so eine wich­tige Frage? Wir spra­chen mit dem Sexthe­ra­peu­ten und Psy­cho­lo­gen Robert Anan­des Coordes

Wieso sind geschlecht­li­che Rol­len­ver­ständ­nisse noch so aus­ge­prägt?
Wir sind alle sozia­li­siert und wach­sen mit ganz bestimm­ten Werten und Normen auf. Frauen sind Töch­ter von Müt­tern, und Männer haben als Söhne gewis­ser­ma­ßen ein geschlecht­li­ches Bild geerbt. Die moderne Hirn­for­schung sagt: Auf dem einen Geschlechts­chro­mo­som sind so wenig Gene codiert, dass Männer und Frauen gene­tisch gar nicht so unter­schied­lich sind. Wir star­ten mit einer sehr ähn­li­chen Grund­aus­stat­tung und ent­wi­ckeln viele unse­rer Merk­male dann im Laufe unse­rer Sozialisation.

Warum wollen wir das Geschlecht wissen, wenn wir andere Men­schen sehen? Will das jeder?
Ich glaube, das trifft auf so gut wie jeden Men­schen zu. Wir sind nun mal viel stär­ker durch unsere Bio­lo­gie, durch unsere Instinkte und Regun­gen gelei­tet, als wir uns das bewusst machen. Sexua­li­tät und Fort­pflan­zung sind zen­trale Themen für uns bio­lo­gi­sche Wesen. Frauen scan­nen Männer nach­weis­lich zuerst auf Augen, Hände und Po. Männer bli­cken bei Frauen der Reihe nach auf Gesicht, Brust und Po. Man kann sagen „Die che­cken sich ab.“

Worauf ist das zurück­zu­füh­ren?
Bio­lo­gisch wählen sich Part­ner danach aus, was ihnen den größ­ten Vor­teil ver­schafft. Ent­schei­dend ist dabei, ob der andere Mensch einen schüt­zen kann, ob er einen hohen sozia­len Status hat, aktiv ist, ob er für Nach­wuchs sorgen kann und ob er in der Lage ist, eine Fami­lie zu ernäh­ren. Wir reden hier von lebens­wich­ti­gen Geschich­ten. Die Aus­wahl­kri­te­rien sind uns selten bewusst. Die Fähig­keit zu reden oder zu dis­ku­tie­ren, macht zum Bei­spiel nur in Hin­blick auf einen grö­ße­ren sozia­len Ein­fluss Sinn.

Geschlecht­li­che Iden­ti­tät im Alltag – welche Rolle spielt sie?
Eine sehr große zumeist. Die geschlecht­li­che Iden­ti­tät gibt Ori­en­tie­rung und Halt, häufig aller­dings engt sie ein. Ich habe viele Pati­en­ten, die mit ihrer geschlecht­li­chen Iden­ti­tät Pro­bleme haben. Ein Mann sagte zum Bei­spiel „Ich weiß nicht, was ich machen soll, ich fühle mich zu weib­lich.“ Es kommt häufig vor, dass Men­schen, die in sich selbst keine sta­bile Iden­ti­tät fes­ti­gen konn­ten, ihr Leben lang damit beschäf­tigt sind, ihrer Iden­ti­täts­lo­sig­keit nicht zu begeg­nen und in diesem Bestre­ben Bilder und Vor­stel­lun­gen ande­rer übernehmen.

Wieso ist eine sta­bile Iden­ti­tät schwer zu errei­chen?
Die ame­ri­ka­ni­sche Tie­fen­psy­cho­lo­gin Alice Miller unter­schei­det zwi­schen dem wahren Selbst und dem fal­schen Selbst. Die Regun­gen des wahren Selbst sind zumeist Aus­druck unse­rer Wild­heit, Direkt­heit und Leben­dig­keit und sind uns nicht immer ganz geheuer. Dane­ben gibt es das soge­nannte fal­sche Selbst, sozu­sa­gen das Image, das man über sich pro­du­ziert und dem man folgt, um in der Welt etwas dar­zu­stel­len. Geschlecht­li­che Iden­ti­tät ist meist diesem Image­be­reich zuzuordnen.

Und das ist ein Pro­blem?
Die Ana­ly­ti­ker sagen: Die Regun­gen des fal­schen Selbst führen zu kei­ner­lei Befrie­di­gung. Alles, was leer ist, weil es nicht mit unse­ren Gefüh­len und Regun­gen ver­bun­den ist, gibt uns per­sön­lich keine Befriedigung.

Was heißt das zum Bei­spiel?
Hat jemand gelernt, wie er sich als erfolg­rei­cher Mann, der etwas in der Gesell­schaft bedeu­tet, ver­hält und bewegt, dann ver­sucht er in Erwar­tung von Beloh­nung und Aner­ken­nung dem nach­zu­ei­fern. Auch wenn das für ihn per­sön­lich sinn­leer ist. Damit ent­wi­ckelt er eine Schei­ni­den­ti­tät, die seinem wahren Selbst sogar ent­ge­gen­ste­hen kann. Wir leben in einer Gesell­schaft, in der uns für dieses Image einer­seits Beloh­nung sug­ge­riert wird – ande­rer­seits ver­schwin­den all­ge­mein­gül­tige Werte.

Wie ändern sich kon­ven­tio­nelle Geschlech­ter­rol­len?
Gerade in und für Bezie­hun­gen scheint es starke Ver­än­de­run­gen zu geben. In Berlin leben etwa 700.000 Sin­gles in eige­nen Woh­nun­gen. Die klas­si­schen Bezie­hungs­mo­delle mit ihren Vor­stel­lun­gen haben an Glanz und Kraft ver­lo­ren. Es fehlt an der Fähig­keit, die eigene indi­vi­du­elle und part­ner­schaft­li­che Iden­ti­tät zu gestalten.

Wie geht Berlin wirk­sam gegen den Mangel an wahren Selbst­bil­dern vor?
(stößt pfei­fend Luft aus) Öffent­lich­keit. Men­schen soll­ten lernen, über ihr wahres Selbst zu kom­mu­ni­zie­ren, auch wenn sie sich dann so fühlen, als würden sie Schwä­chen zeigen oder sich angreif­bar machen. Indem solche Themen öffent­lich prä­sent werden, bricht man Tabus. Man gibt dann vielen Men­schen die Erlaub­nis, sich in glei­cher Weise zu entlasten.

Was spricht dage­gen, wenn mehr Men­schen ent­las­tet sind?
Nun, die Wirt­schaft könnte dann wahr­schein­lich nicht mehr so viele Pro­dukte abset­zen. Ein Mensch, der sich selbst und sein Bedürf­nisse kennt, glück­lich und befrie­digt ist, neigt wahr­schein­lich nicht mehr so sehr dazu, sein Glück beim Kauf eines neuen Autos oder neuer Klei­dung zu erhoffen.

Also bricht dann die Wirt­schaft zusam­men?
Ich glaube, die Qua­li­tät würde stei­gen. Man würde mehr in Bezie­hung treten mit Pro­duk­ten und Dienst­leis­tern. Nicht mehr unbe­dingt in Rich­tung Mas­sen­pro­duk­tion und billig nach dem Motto „Haupt­sa­che-ich-spar-noch-mal“.

Würde eine mensch­li­che Unisex-Gesell­schaft funk­tio­nie­ren?
Was soll das sein? Erst einmal denke ich da an Hor­ror­filme: Men­schen, die gleich­ge­schal­tet sind und keinen Sex mehr haben, weil sie keine sexu­el­len Span­nun­gen zwi­schen sich wahr­neh­men. Bezie­hun­gen sind extrem ent­wick­lungs­för­dernd, eben weil Männer und Frauen sich unter­schei­den. Ich habe die Vision, dass es ein erfül­len­des Mit­ein­an­der bei gleich­zei­ti­ger Unter­schied­lich­keit geben kann. Ein Mit­ein­an­der, in dem beide Geschlech­ter zu einer sta­bi­len, inner­lich erleb­ten Iden­ti­tät finden können.