Unisex für alle

Das Men­schen­ge­schlecht mag Zwei­er­grup­pen: Männer und Frauen, gut und schlecht, hetero und homo. Ter­tium non datur. Ein Drit­tes darf es nicht geben. Doch bei genauem Hin­schauen zer­fällt die Illu­sion der ein­deu­ti­gen Kategorien.

Blau und Rot als Symbol für das männliche und weibliche Geschlecht – als ob es so einfach wäre … Nur ein scheinbares Abwägen. Zu viele Faktoren entziehen sich unserem Einfluss. Foto: Albrecht Noack
Die Foto­se­rie schoss Albrecht Noack spe­zi­ell für dieses Titel­thema. Hier noch ein paar Motive, die wir nicht im Heft ver­wen­det haben.

Am 11. Juni 1994 wurde der Para­graf 175 aus dem bun­des­deut­schen Straf­ge­setz­buch gestri­chen. Dieser hatte seit 1872 sexu­elle Hand­lun­gen zwi­schen Män­nern unter Strafe gestellt. Für Frauen gab es ledig­lich gesell­schaft­li­che Ver­bote, keine expli­zi­ten Para­gra­fen. Das Straf­ge­setz­buch unter­schied also sehr genau zwi­schen Män­nern und Frauen und presste Männer in die Heteronorm.

Bemer­kens­wert ist, wie lange sich Gesetze klar zwi­schen Män­nern und Frauen unter­schei­den. Dabei werden bio­lo­gi­sches Geschlecht, sozia­les Geschlecht und geschlecht­li­che Iden­ti­tät als iden­tisch ange­se­hen. Schwule galten eine Zeit­lang als „drit­tes Geschlecht“, doch die Zäh­lung von Geschlech­tern wird schnell ergeb­nis­los, wenn man die Viel­zahl der Mög­lich­kei­ten bedenkt, wie sozia­les und bio­lo­gi­sches Geschlecht sowie die geschlecht­li­che Iden­ti­tät aus­ge­prägt sein können.

Immer in Sichtweite

Je mehr ernst­hafte wis­sen­schaft­li­che For­schun­gen ver­su­chen, die ver­mu­te­ten Unter­schiede zwi­schen Män­nern und Frauen zu ent­de­cken, desto mehr schwin­den sie. Ein typi­sches Kli­schee: Jungs und Männer können sich besser ori­en­tie­ren als Mäd­chen und Frauen. Als Beob­ach­tung ist diese Fest­stel­lung zuläs­sig. Doch die Gründe liegen nicht in der männ­li­chen Bio­lo­gie, son­dern im Trai­ning. Ten­den­zi­ell haben Jungen grö­ßere Frei­hei­ten, wäh­rend Mäd­chen oft in Sicht­weite ihres Zuhau­ses spie­len. Somit trai­nie­ren Jungs ihren Ori­en­tie­rungs­sinn bereits in jungen Jahren. Ein Test ergab, dass sich erwach­sene Frauen so gut wie Männer ori­en­tie­ren können, nach­dem sie zwei Wochen trai­niert wurden.

Warum spie­len Mäd­chen häu­fi­ger nahe ihres Zuhau­ses als Jungs? Weil sie ängst­li­cher sind? Weil ihre Mütter ängst­lich sind und sie in Sicht- oder Hör­weite wissen wollen? Die Mütter pro­ji­zie­ren ihre Erwar­tun­gen auf die Kinder, je nach Geschlecht. Das Geflecht der Prä­gun­gen, Ursa­chen und Wir­kun­gen ist so viel­ge­stalt, dass jede Dar­stel­lung Gefahr läuft, Dinge zu über­sim­pli­fi­zie­ren. Doch eine Tat­sa­che ist unstrit­tig: Das Geschlecht eines Kindes wird bei der Geburt anhand der äuße­ren Merk­male bestimmt.

Entweder – oder

Binnen der ersten Lebens­jahr­zehnte defi­niert der Mensch für sich selbst seine sexu­elle Iden­ti­tät. Weicht diese vom anfangs fest­ge­leg­ten Geschlecht ab, müssen geleb­tes und gefühl­tes Geschlecht neu aus­ba­lan­ciert werden. Erschwe­rend kommt hinzu, dass aus dem bio­logischen Geschlecht Erwar­tun­gen an das Ver­hal­ten resul­tie­ren. Doch nicht jeder Junge will sich männ­lich ver­hal­ten müssen, manch­mal möchte er weinen. Manche Mäd­chen mögen lieber im Wald tollen als vor dem Haus mit Puppen spielen.

Die Ver­hal­tens­wei­sen sagen nichts über eine spä­tere sexu­elle Ori­en­tie­rung aus. Es gibt sehr femi­nine Lesben und sehr männ­li­che Schwule, die ihre hete­ro­se­xu­el­len Geschlechts­ge­nos­sen in Weib­lich­keit bzw. Männ­lich­keit jeweils locker über­tref­fen. Doch die Debatte über Geschlech­ter lebt von der Bina­ri­tät der Mög­lich­kei­ten. In bio­lo­gi­schem und sozia­lem Geschlecht sowie in der Iden­ti­tät muss sich jede Person zwi­schen männ­lich und weib­lich ent­schei­den – „ent­we­der, oder“, es gibt nichts dazwischen.

Würde und Freiheit

Doch was pas­siert, wenn bereits im ersten Moment, bei der Geburt, das Geschlecht nicht ein­deu­tig erkenn­bar ist? Wenn äußere Geschlechts­merk­male und Hor­mon­haus­halt wider­sprüch­lich sind? Wenn das Junge-oder-Mäd­chen-Para­digma nicht greift, weil nur ein „Mensch“ gebo­ren wurde? Dann wird ein­fach ent­schie­den und dem Kind ein Geschlecht zuge­wie­sen. Es gibt etwa 80.000 Herm­aphro­di­ten in Deutsch­land, die also weder Mann noch Frau sind, aber zu einem von beidem erklärt wurden.

Wenn bei der Geburt das Geschlecht fest­ge­legt wurde, das Ope­ra­tio­nen oder Medi­ka­mente oft noch ver­stär­ken, aber die geschlecht­li­che Iden­ti­tät später dem Äuße­ren wider­spricht, ist die Würde des Betrof­fe­nen dahin. Denn plötz­lich muss ein geschlecht­lich Fest­ge­leg­ter bewei­sen, dass die frem­den Zuschrei­bun­gen falsch waren. Die Ärzte in Deutsch­land sind bei der Fest­le­gung des Geschlechts bei Herm­aphro­di­ten zurück­hal­ten­der gewor­den. Die Gesell­schaft ist es nicht. Sie ver­langt nach „Mäd­chen oder Junge“. Will die Mutter das Geschlecht ihres Kindes nicht ver­ra­ten, gerät sie in Erklärungsnöte.

Das Geschlecht ist nicht unwich­tig. Schließ­lich müssen wir ja wissen, ob das Kind sich vom Haus ent­fer­nen darf oder in Sicht­weite blei­ben soll. Wir mögen es ein­fach. Fragen müssen mit Ja oder Nein zu beant­wor­ten sein. A‑, Bi- und Pan­se­xu­elle rüt­teln an unse­rem Welt­bild, denn sie ent­zie­hen sich der Ent­schei­dungs­not­wen­dig­keit und haben dadurch Frei­hei­ten. Heim­lich benei­den wir sie darum.

Nachtrag

Dieser Arti­kel (eng­lisch) beschreibt die His­to­rie der Geschlech­ter­de­kla­ration von Babys. So war es bis vor wenige Jahr­zehnte üblich, Jungs und Mäd­chen glei­cher­ma­ßen in Weiß zu klei­den. Das war vor allem prak­tisch, denn weiße Wäsche ließ sich leicht waschen (blei­chen). Bis zum sechs­ten oder sieb­ten Geburts­tag konnte man rein klei­der- und frisu­renmäßig Jungs nicht von Mäd­chen unter­scheiden. Was für ein Sodom und Gemor­rha aus sol­chen unhalt­ba­ren Unein­deu­tig­keiten resul­tierte! Bloß gut, dass es ab Anfang des 20. Jahr­hun­derts üblich wurde, Kinder mit einem Farb­code zu ver­se­hen. Jungs trugen meist Pink (eine klare, ent­schie­dene Farbe), wäh­rend für Mäd­chen Hell­blau emp­foh­len wurde (eine leichte, zurück­haltende Farbe). Es wäre wirk­lich mal an der Zeit, die Stö­run­gen und sexu­el­len Abnor­mitäten zu unter­suchen, die durch eine solche Pflicht­far­bigkeit (und noch dazu die fal­sche!) ent­stan­den sind. Dann orien­tierte sich die Baby- und Klei­der­farbe eine Zeit­lang an der Farbe, die ältere Geschlechts­ge­nossen und ‑genos­sinnen trugen: Rot/Pink für Frauen, aber vor allem Blau für Männer. Den Unter­schied zwi­schen einem zarten Hell­blau und einem kräf­ti­gen Arbei­terblau kann man dabei natür­lich vernach­lässigen. (Randbe­merkung: Im Rus­si­schen wird das Wort für Hell­blau glei­cher­ma­ßen wie Rosa in Deutsch ver­wen­det: als Syn­onym für weibisch/schwul.) Dann kamen die Femi­nis­ten an die Macht und ver­bo­ten jeg­li­che Herab­setzung der Mäd­chen. Also erhiel­ten weib­li­che Babys die glei­chen Farben und Klei­dun­gen wie Jungs – ein nicht unwesent­licher Unter­schied zum geschlechts­neu­tralen Weiß hun­dert Jahre zuvor.

Über Peter Schoh (20 Artikel)
Eher der heiteren Seite des studentischen Lebens zugewandt. Hält Berlin für die tollste Stadt der Welt und glaubt nicht, dass es eine schönere Zeit als die des Studierens gibt.

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