Nimm mich
Klischees bestimmen, was wir von anderen denken. Das kann von Vorteil oder Nachteil sein. Wer Klischees für sich nutzt, profitiert.
Die Fotoserie schoss Albrecht Noack speziell für dieses Titelthema. Hier noch ein paar Motive, die wir nicht im Heft verwendet haben.Lehrer sind sexy. Jedenfalls aus Sicht von Schülerinnen und Studentinnen. Die Schwärmerei der Mädchen und jungen Frauen ist zum Klischee erstarrt. Umso überraschender ist es, wenn wir in der Realität Fällen begegnen, die uns bestätigen, dass das Klischee stimmt. Aber gilt das letztlich nicht für alle Klischees?
Klischees leben dadurch weiter, dass sie ein Korn Wahrheit enthalten, dass jeder genügend Beispiele kennt, in denen sie zutreffen. Aber Klischees sind nur Tendenzaussagen. Man sollte sie nie für eine Wahrheit halten. Nur weil es in Hollywoodfilmen in traurigen Szenen immer regnet, bedeutet das nicht, dass bei Regenwetter die Freundin oder der Freund Schluss machen wird.
Es gibt viele Gründe, warum ein Klischee in einer konkreten Situation nicht stimmen muss. Die Frau, die allein in der Disko tanzt, sucht möglicherweise nicht unbedingt einen Mann. Vielleicht braucht sie nicht mal einen Mann, sondern würde lieber mit einer anderen Frau tanzen. Vielleicht will sie nach einer anstrengenden Woche einfach nur ihren Körper neu spüren. Vielleicht hat sie wider besseres Wissen eine angebotene Pille doch genommen. Aber vielleicht würde sie sich doch freuen, wenn ein Mann sie endlich anspräche. Andererseits sind Klischees ungemein nützlich im Alltag. Letztlich konfigurieren sie unsere Vorannahmen, mit denen wir anderen begegnen.
Balztanz auf der Lebensbühne
Singles auf der Suche sehen jede Person als potenziellen Partner und baggern drauflos. Auch das ist ein Klischee. Etwas realistischer betrachtet suchen Singles nach Signalen, um das Interesse eines potenziellen Partners abzuschätzen. Zunächst gilt jede Person als potenzieller Partner, ob für eine Stunde, eine Nacht oder den Rest des Lebens. Aber sofort wird aussortiert: nach Geschlecht, Alter, Haarfarbe, Kleidungsstil, Körperhaltung, Beziehungsstatus, sozialem Verhalten und unangenehmen Gewohnheiten wie Nasebohren.
Scheitert das Gegenüber nicht grundsätzlich in dieser ersten Bestandsaufnahme, folgt die eigentliche Herausforderung. Die Kontaktaufnahme. Jede Geste, jeder Satz, jeder Gesichtsausdruck signalisiert Verfügbarkeit. „Nimm mich.“
Die Klischeefalle
Wer es dabei übertreibt, löst auf der Gegenseite allerdings eher Fremdschämen als Interesse aus. Die Peinlichkeit der Verzweifelten resultiert daraus, dass sie jede Person gleichermaßen begehren. Hauptsache verfügbar. Ich Mann, du Frau – wir poppen! Dass diese Rechnung nicht aufgeht, erleben sie zwar, merken es jedoch nicht. In der Bahn, im Seminar, selbst im sonst so aufgeschlossenen Internet sind sie selten erfolgreich. Vor lauter „Nimm mich“-Verzweiflung vergessen sie, dass es ja eigentlich nicht um sie geht. Es geht auch nicht um die andere Person. Letztlich geht es um die Zeit, die man miteinander teilt.
Gerade bei der Umwerbung von Partnern tappen viele in die Klischee-Falle. Zyniker sprechen bei einem Abendessen mit Kerzenschein abgeklärt von einem „Candlelight Dinner”. Romantiker freuen sich über das schummrige Licht und wissen, dass so ein Essen nicht unbedingt als Vorspiel gelten muss. Die Atmosphäre und das Gespräch entfalten ihren eigenen Reiz und verleihen dem Abend eine Erotik, gegen die der tatsächliche Sex fast profan wirkt.
Vorteil der Vorurteile
Der Vorteil von Klischees liegt auch darin, dass sie für alle gelten. Die selbe Voreingenommenheit, mit der wir anderen begegnen, können wir zu unserem Vorteil nutzen. „Kleide dich nicht danach, wer du bist, sondern danach, wer du sein willst”, lautet ein Karriereratschlag. Die Frage, wer man sein will, wird zwangsläufig von Klischees mitbestimmt. Das gilt auch für das Verhalten oder die Art zu reden. Erfülle die Klischees, auf die du auch anspringen würdest, wenn du auf der Suche bist.
Sollte einmal die falsche Person auf dich anspringen, kannst du in die ersten Sätze beiläufige Aussagen über einen Elternteil oder den Ex-Partner einflechten. Dem Klischee gemäß erkennt der Gegenüber sofort, dass du noch kein gutes Beziehungsmaterial bist und wird von dir ablassen.
Doch steigert sich das „Nimm mich“-Angebot in eine grenzenlose Schwärmerei, sind subtile Hilfsmittel zwecklos. „Don’t stand so close to me“, bat Sting, der früher auch als Lehrer arbeitete, eine Schülerin. Aus Mädchensicht scheint der Lehrer genau zwischen Daddy und Boyfriend zu liegen – das macht ihn zum idealen Ehemann. Wie die kreischende Meute bei Boygroup-Konzerten sind sie zu allem bereit: ewige Liebe, bedingungslose Treue, hemmungsloser Sex. Doch der Wunsch „Nimm mich“ lebt immer auch ein wenig von seiner Unerfüllbarkeit.