Du bist dein größter Feind

Wer ver­krampft und ver­zwei­felt um etwas kämpft, ver­liert oft den Blick aufs Wahre. Solche „Nimm mich”-Menschen umge­ben uns über­all. Sie wissen oft gar nicht, wie jäm­mer­lich sie wirken. 

Es ist keine unge­wohnte Situa­tion. Man ist in den Semes­ter­fe­rien auf Hei­mat­be­such und trifft in einer Bar einen ehe­ma­li­gen Mit­schü­ler. Man war früher nicht wirk­lich gut befreun­det, aber für ein nettes Gespräch reicht es noch. Oft genug kommt es dann zur fol­gen­den Situa­tion. Sobald man zum obli­ga­to­ri­schen „Was machst du denn gerade?” kommt, fängt der Gesprächs­part­ner rich­tig an. Die Reise hier, das Stu­dium da, was er dabei alles erlebt hat und wen er ken­nen­ge­lernt hat. Man traut sich kaum, selber etwas bei­zu­tra­gen. Kaum bringt man ein paar Worte raus, hakt sich der Gegen­über­sit­zer ein und erzählt eine tol­lere, bes­sere, wit­zi­gere Geschichte. Man kann unter­schied­lich darauf reagie­ren: über­rascht, fas­zi­niert, angeekelt.

Das Auf­plus­tern ist nicht unge­wöhn­lich, fast jeder wird es schon mal an sich beob­ach­tet haben. Mal schlim­mer, mal weni­ger schlimm. Es ist ver­ständ­lich, dass man vor ande­ren gut daste­hen will, vor allem wenn man nicht die engste Bezie­hung zu ihnen hat. Geschäfts­kol­le­gen, Flirt­partner, ehe­ma­lige Mit­schü­ler. Eine ganze Bran­che mit Rat­ge­bern boomt: flir­ten, bewer­ben, sich prä­sen­tie­ren kann gelernt sein. Einige Tipps davon mögen hilf­reich sein.

Den eigenen Wert kennen – aber nicht zeigen

Doch wer all diese Maß­stäbe an sich selber ansetzt, steht nicht immer in einem bes­se­ren Licht da. Näm­lich genau dann, wenn mal jemand hinter die Fas­sade schaut, die auto­ma­ti­schen Abläufe und Sche­mata erkennt. Oder bloß ein Zitat von Henry Ford kennt: „Ein Lang­wei­ler ist einer, der seinen Mund auf­macht und seine Hel­den­ta­ten hin­ein­steckt.” Der Lebens­lauf unse­res ehe­ma­li­gen Mit­schü­lers kann ja wirk­lich beein­dru­ckend sein. Er könnte uns auch so über­zeu­gen. Wenn er nur ruhig bliebe und uns auch mal zu Wort kommen ließe. Manche Leute machen das aber nicht. Warum eigentlich?

Sie ver­kramp­fen. Sie schauen einem in die Augen, ihnen scheint in großen, auf­dring­li­chen Buch­sta­ben auf der Stirn zu stehen: „Nimm mich!” Mit ins Bett, für den Job, erzähl deinen Freun­den, wie toll ich bin. Wenn man weiter suchen würde, findet man sicher­lich – quer über den Bauch täto­wiert – den Zusatz „Denn ich bin das Beste, was du kriegst, und das weiß ich!” Genauso groß und grell. Weiter geht man dann nicht, man ist jetzt schon von soviel Selbst­über­schät­zung ange­ekelt. Doch sollte man wei­ter­su­chen, dann findet man irgendwo, ver­steckt zwi­schen Mittel- und Zei­ge­zeh, einen Hil­fe­ruf, in zart­ge­schrie­be­nen Kur­siv­let­tern: „Ich tu doch nur so. Komm und bring mich wieder auf den Boden zurück.”

Ständig mit sich selbst beschäftigt

Deut­lich zeigt sich das in all den Situa­tio­nen, bei denen wir uns prä­sen­tie­ren müssen: Man ist auf frem­dem Ter­rain, ver­fällt in Muster, die sich schein­bar bewährt haben. Ob das nun abends auf der Tanz­flä­che oder beim Bewer­bungs­ge­spräch ist. Der „Nimm mich!”-Mensch stellt sich in den Vor­der­grund, anstatt mal einen Schritt zurück­zu­ge­hen und den ande­ren zu lau­schen. Auf Part­ner­su­che in der Disko schaut er sich auf­fäl­li­ger um, als er es gerne hätte. Son­diert die poten­zi­el­len Part­ner. Hat er jeman­den gefun­den, spricht er diesen nur viel­leicht an. Not­fall­er­klä­rung für die Freunde im Nach­hin­ein: „Nicht mein Typ.” Traut er sich trotz­dem, geht das in den besten Fällen noch mit einem „Du, ich find Dich nett” los, in den schlech­tes­ten Fällen mit einem „Hey, ich bin heute gut drauf – bist Du gut drun­ter?” Kommt es dann den­noch zu einem Gespräch, ver­krampft der „Nimm mich!”-Mensch weiter. Er redet dann nur noch von sich. Kein Wunder, dass die Part­ner den Hil­fe­ruf zwi­schen den Zehen gar nicht erst sehen können.

Eine ähn­li­che Szene: Bei einem Bewer­bungs­ge­spräch ver­sucht er, sich mög­lichst ziel­ori­en­tiert, ehr­gei­zig, streb­sam dar­zu­stel­len. Der ein oder andere mag darauf rein­fal­len, aber die Leute aus der Per­so­nal­ab­tei­lung sind für solche Fälle geschult worden. Wahr­schein­lich kennt jeder von ihnen die feinen, spit­zen Worte von Tuchol­sky: „Wenn man einen Men­schen rich­tig beur­tei­len will, so frage man sich immer: ‚Möch­test du den zum Vor­ge­setz­ten haben?‘ ” Wenn man scharf beob­ach­tet und mög­li­che Gründe für das Ver­hal­ten anti­zi­piert, sieht man durch die großen, pla­ka­ti­ven Buch­sta­ben hin­durch. Erkennt den Hil­fe­ruf. Für Mit­ar­bei­ter in einem Asses­se­ment-Center ist dann klar: So jeman­den kann die Firma nicht anstellen.

Der „Nimm mich!”-Mensch kriegt von alle­dem nicht viel mit, er ist zu sehr mit sich selbst beschäf­tigt. Er kann mit einem guten Gefühl aus dem Bewer­bungs­ge­spräch kommen, er kriegt die Stelle doch nicht. Die kriegt dann eher der lockere, aber authen­ti­sche Kom­mi­li­tone. „Mist”, denkt der „Nimm mich!”-Mensch dann. „Dabei würde ich den Job doch viel besser machen.” Und ver­krampft noch weiter.

Über Jan Lindenau (25 Artikel)
kann sich nicht daran erinnern, jemals gesagt zu haben, dass er „irgendwas mit Medien machen will“. Ist trotzdem irgendwie Chefredakteur der spree geworden. Große Leidenschaft für Sprache, Literatur, Russland - und ja, Medien.