Gebote sind zum Brechen da
Eine Weiße Weste trotz oder wegen der Religionen – wie alltagstauglich sind moralische Gebote wirklich?
Beliebt ist die Behauptung „Ich habe nichts falsch gemacht, ich habe eine Weiße Weste.“ Unsere Gesellschaft verbindet die moralische Qualität eines Menschen mit seinem korrekten Verhalten. Das kommt nicht von ungefähr. Religionen, die seit Beginn des menschlichen Zusammenlebens ein moralisches Orientierungsangebot geben, bieten auch Vorgaben zum Umgang mit Menschen.
Regeln schaffen
Viele Tendenzen von Religiosität haben eines gemeinsam: Das menschliche Leben ist geschaffen und gewollt von einem oder mehreren Göttern. Da Menschen allerdings nicht in der Lage sind, das irdische Leben selbst zu organisieren, schafft die heilige Instanz bestimmte Regeln, die eingehalten werden müssen. Seien es die zehn Gebote des Judentums oder des Christentums, seien es die Schriften des Islams oder die Heiligen Schriften des Hinduismus. Diese Regeln bestimmen die moralische Qualität eines Menschen und ihre Befolgung somit den Weißegrad seiner Weste.
Das profane System
Auf den ersten Blick scheint dieses System plausibel, und schnell ist auch eine Verbindung zu unserem heutigen Leben gefunden. Ob Atheist oder Gläubiger: Menschen müssen sich bestimmten Regeln der Gesellschaft, in der sie leben, fügen. Profane Beispiele sind die Straßenverkehrsordnung oder das Strafgesetzbuch. Es ist nötig, Regeln zum Zusammenleben zu schaffen, die den Grundkonsens der Bevölkerung widerspiegeln. Natürlich versucht der Mensch, diese Regeln einzuhalten, da auf jedes Delikt eine Sanktion folgt. Das Schaffen von weltlichen Regeln ist sinnvoll, aber es besteht ein Unterschied zu vielen Religionen. Ein Regelkonstrukt entsteht aus Missständen, die zunächst festgestellt und reflektiert und dann durch „Learning by Doing“ zu gesellschaftlichen Normen werden. Der Unterschied ist: Im politischen Rahmen haben sich die Menschen selbst Regeln geschaffen, die unter bestimmten Bedingungen änderbar sind. Die Gesellschaft befindet sich in stetem Wandel, den wir alle anstreben und mittragen. Oder würde es unserer Gesellschaft entsprechen, wenn wir immer noch den Artikel 175, das Verbot von Homosexualität, im Strafgesetzbuch führen würden? Sicherlich nicht.
Veraltete Vorstellungen
Diese konservative Haltung findet sich beispielsweise im Christentum. Die Regeln sind fix, vor mehr als 2.000 Jahren aus bestimmten gesellschaftlichen Tendenzen entstanden. Die Sanktionen bleiben bestehen. Die urteilende Instanz ist Gott. Die Weiße Weste wird auf dieselbe Art und Weise wie vor 2.000 Jahren beschmutzt. Sicherlich hat ein Gebot wie „Du sollst nicht töten“ eine uneingeschränkte Relevanz. Aber wie ist es bei dem Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ oder „Du sollst nicht Ehe brechen“? In unserer heutigen Realität möglicherweise überarbeitungswürdig. Diese Regeln sind wohl mehr individuell einschränkend, als nützlich für das Zusammenleben.
Gebotene Individualität
Strenge Gebote halten den Menschen davon ab, durch individuelle Erfahrung selbst einzuschätzen, zu durchdenken, was richtig und was falsch ist. Warum können Kinder in unserer Gesellschaft in ein Kinderheim gehen, wenn sie von ihren Eltern misshandelt werden? Warum kann man durchaus Ehen brechen, wenn das Zusammenleben nicht glücklich ist? Weil wir danach streben, unser Leben individuell so zu gestalten, wie es uns am meisten erfüllt. Man sollte sich eher fragen, ob in diesem Fall das Christentum sich seine Weste nicht selbst beschmutzt, indem es Menschen zwingt, in einer modernen Gesellschaft nach Regeln zu leben, die der Gesellschaft widersprechen – zum Beispiel, wenn man lügt, um ein anderes Gebot nicht zu brechen. Fakt ist: Eine wirklich Weiße Weste hat wohl keiner, nach welchen Regeln er auch lebt, und das ist auch gut so. Denn erst das Begehen von Fehlern, die Einsicht und die darauf folgenden Konsequenzen machen uns zu den reflektierten Individuen, die wir jetzt sind.