Einfach nur Liebe

Der Chris­to­pher Street Day 2008 ist das Party-Event Ber­lins. Schrill, offen­her­zig und laut steht Berlin eine bunte Zeit bevor.

Chris wischt sich den Schweiß von der Stirn und füllt die leeren Flüs­sig­keits­tanks seines Kör­pers mit sauer­stoff­an­ge­rei­cher­tem Wasser auf. Es ver­spricht, ein ver­dammt heißer Tag zu werden, denn es ist der 28. Juni. Sein Kumpel Luca hat ihn auf einen der CSD-Para­det­rucks ein­ge­la­den, eine Hom­mage an den 80er-Hit „Pretty in Pink“. Eigent­lich ein wenig kli­schee­haft das Ganze, aber wann – wenn nicht heute – soll man dick auf­tra­gen? Chris ist früh dran.

Knapp 300 Meter ent­fernt sichern Poli­zis­ten gerade die Para­de­stre­cke mit Stra­ßen­bar­rie­ren, als ein miss­mu­tig drein­schau­en­der Mann mitt­le­ren Alters zu ihnen tritt und auf­ge­bracht fragt, was denn nun schon wieder los sei. Einer der Poli­zis­ten nennt ihm den Grund. Als der Mann gerade anhebt, feind­se­lig los­zu­wet­tern, kommt ihm ein ande­rer Poli­zist zuvor: „Mein Guts­ter, die Schwu­len­pa­rade ist die beste Party des Jahres. Man kriegt was zu schauen, und alles bleibt fried­lich – so wenig haben wir bei keiner ande­ren Party zu tun.“ Der Mann trollt sich.

Von New York nach Berlin

Der Chris­to­pher-Street-Day (CSD) gilt als das geilste Fes­ti­val der Welt. Viel nackte gebräunte Haut, gestählte Mus­keln und heiße Hös­chen. Welt­weit ist der CSD der Inbe­griff von Tole­ranz und Offen­heit, von Sex und aus­ge­las­sen fei­ern­den Men­schen jeder Cou­leur und Natio­na­li­tät. Dafür steht die Regen­bo­gen­flagge. Ob Banker oder Trans­ves­tit, Schul­mäd­chen oder Lehrer, homo, hetero, bi oder unent­schlos­sen – alle feiern gemein­sam eine geile Party und shaken zur Musik, was ihnen Gott mitgab.

In Berlin ist der CSD dazu ein­fach noch dufte. Den Kos­tü­men der auf­ge­hübsch­ten Diven und Buben kann sonst nur noch der „Kar­ne­val der Kul­tu­ren“ Kon­kur­renz machen. Dieses Jahr wird 30-jäh­ri­ges Jubi­läum gefei­ert, und es ver­spricht, noch größer und schil­lern­der zu werden als die Jahre zuvor.

Chris ist fertig gestylt und ver­sucht, Fabian auf dem Handy zu errei­chen, seit drei Wochen Chris’ Schwarm und noch immer nicht am Truck auf­ge­taucht. Heute wäre eine gute Chance, sich ihm zu nähern. Ein schwer­lich unter­drück­ter Schrei lässt ihn her­um­wir­beln. Vor ihm steht eine augen­schein­lich pol­ni­sche Fami­lie, die skep­tisch seine Erschei­nung mus­tert. Umge­hängte Kamera und Stadt­plan in der Hand kenn­zeich­nen sie als Tou­ris­ten. Die Mutter hält der Toch­ter eine Hand vor die Augen und bekreu­zigt sich mit der ande­ren, der puber­tie­rende Sohn schaut fei­xend zu Boden. Erst nach ein paar Sekun­den fällt Chris ein, dass sein Outfit oder besser, sein rosa­far­be­ner String-Tanga und das Netz­top für die Reak­tio­nen aus­schlag­ge­bend sein könn­ten. Er prä­sen­tiert sein strah­lends­tes Lächeln: „Wel­come to Berlin, home of Gay Pride.“

Für jeden Geschmack

Der CSD-Berlin e.V. orga­ni­siert neben der wohl bekann­tes­ten Parade der Welt als Reak­tion auf erneut stei­gende HIV-Anste­ckungs­ra­ten in Deutsch­land wieder Infor­ma­ti­ons­stände und ‑ver­an­stal­tun­gen über die töd­lich ver­lau­fende Immun­schwä­che Aids. Mit dem Preis für Zivil­cou­rage setzt er sich wei­ter­hin für eine vor­ur­teils­freie Bür­ger­ge­sell­schaft ein, die Min­der­hei­ten nicht dis­kri­mi­niert. Das passt zu Berlin. Die Stadt ist Anzie­hungs­punkt für viele Anders­den­kende und Anders­füh­lende. Homo­se­xua­li­tät ist längst keine Sub­kul­tur mehr, son­dern fester Bestand­teil des städ­ti­schen Lebens. Berlin hat einen „Ich bin schwul und das ist auch gut so“-Bürgermeister mit Bun­des­kanz­ler-Ambi­tio­nen. Neben schwu­len Mode­ma­chern und Fri­seu­ren gibt es Schwu­len- und Les­ben­ca­fés, ‑buch­hand­lun­gen, ‑partys und ‑clubs.

Über die Zahl von Homo­se­xu­el­len gibt es nur unge­fähre Schät­zun­gen. Eine Umfrage der „Bun­des­ar­beits­ge­mein­schaft Schwule Juris­ten“ hat Ende 2004 erge­ben, dass in Berlin 2.018 schwule und les­bi­sche ein­ge­tra­gene Lebens­ge­mein­schaf­ten exis­tie­ren. Nur NRW hat mehr: 3.488.

Der CSD brachte 2007 trotz wech­sel­haf­ten Wet­ters knapp 450.000 Ber­li­ner und Ange­reiste zusam­men. Heute gibt es fast in jeder grö­ße­ren Stadt einen sol­chen Umzug, jedoch heißt er nur in Deutsch­land und der Schweiz Chris­to­pher Street Day. In Ame­rika und Eng­land nennt man ihn Gay Pride, in Aus­tra­lien fällt er mit dem Kar­ne­val zusam­men und heißt daher Mardi Gras.

Die Parade ist in vollem Gange, und Chris kann von seinem höher­ge­le­ge­nen Aus­guck auf dem Truck das bunte Trei­ben über­bli­cken. An einer Stra­ßen­bar­riere sieht er zwei Poli­zei­be­amte fröh­lich mit den Köpfen wackeln, der eine hat gerade eine pinke Feder­stola geschenkt bekom­men. Fabian schaffte es kurz vor Abfahrt noch auf den Truck, jetzt hat er jauch­zend den Arm um Chris gelegt und feiert aus­ge­las­sen – ein­fach Liebe.