Gebote sind zum Brechen da

Eine Weiße Weste trotz oder wegen der Reli­gio­nen – wie all­tags­taug­lich sind mora­li­sche Gebote wirklich?

Foto: Albrecht Noack

Beliebt ist die Behaup­tung „Ich habe nichts falsch gemacht, ich habe eine Weiße Weste.“ Unsere Gesell­schaft ver­bin­det die mora­li­sche Qua­li­tät eines Men­schen mit seinem kor­rek­ten Ver­hal­ten. Das kommt nicht von unge­fähr. Reli­gio­nen, die seit Beginn des mensch­li­chen Zusam­men­le­bens ein mora­li­sches Ori­en­tie­rungs­an­ge­bot geben, bieten auch Vor­ga­ben zum Umgang mit Menschen.

Regeln schaffen

Viele Ten­den­zen von Reli­gio­si­tät haben eines gemein­sam: Das mensch­li­che Leben ist geschaf­fen und gewollt von einem oder meh­re­ren Göt­tern. Da Men­schen aller­dings nicht in der Lage sind, das irdi­sche Leben selbst zu orga­ni­sie­ren, schafft die hei­lige Instanz bestimmte Regeln, die ein­ge­hal­ten werden müssen. Seien es die zehn Gebote des Juden­tums oder des Chris­ten­tums, seien es die Schrif­ten des Islams oder die Hei­li­gen Schrif­ten des Hin­du­is­mus. Diese Regeln bestim­men die mora­li­sche Qua­li­tät eines Men­schen und ihre Befol­gung somit den Weiß­egrad seiner Weste.

Das profane System

Auf den ersten Blick scheint dieses System plau­si­bel, und schnell ist auch eine Ver­bin­dung zu unse­rem heu­ti­gen Leben gefun­den. Ob Athe­ist oder Gläu­bi­ger: Men­schen müssen sich bestimm­ten Regeln der Gesell­schaft, in der sie leben, fügen. Pro­fane Bei­spiele sind die Stra­ßen­ver­kehrs­ord­nung oder das Straf­ge­setz­buch. Es ist nötig, Regeln zum Zusam­men­le­ben zu schaf­fen, die den Grund­kon­sens der Bevöl­ke­rung wider­spie­geln. Natür­lich ver­sucht der Mensch, diese Regeln ein­zu­hal­ten, da auf jedes Delikt eine Sank­tion folgt. Das Schaf­fen von welt­li­chen Regeln ist sinn­voll, aber es besteht ein Unter­schied zu vielen Reli­gio­nen. Ein Regel­kon­strukt ent­steht aus Miss­stän­den, die zunächst fest­ge­stellt und reflek­tiert und dann durch „Lear­ning by Doing“ zu gesell­schaft­li­chen Normen werden. Der Unter­schied ist: Im poli­ti­schen Rahmen haben sich die Men­schen selbst Regeln geschaf­fen, die unter bestimm­ten Bedin­gun­gen änder­bar sind. Die Gesell­schaft befin­det sich in stetem Wandel, den wir alle anstre­ben und mit­tra­gen. Oder würde es unse­rer Gesell­schaft ent­spre­chen, wenn wir immer noch den Arti­kel 175, das Verbot von Homo­se­xua­li­tät, im Straf­ge­setz­buch führen würden? Sicher­lich nicht.

Veraltete Vorstellungen

Diese kon­ser­va­tive Hal­tung findet sich bei­spiels­weise im Chris­ten­tum. Die Regeln sind fix, vor mehr als 2.000 Jahren aus bestimm­ten gesell­schaft­li­chen Ten­den­zen ent­stan­den. Die Sank­tio­nen blei­ben bestehen. Die urtei­lende Instanz ist Gott. Die Weiße Weste wird auf die­selbe Art und Weise wie vor 2.000 Jahren beschmutzt. Sicher­lich hat ein Gebot wie „Du sollst nicht töten“ eine unein­ge­schränkte Rele­vanz. Aber wie ist es bei dem Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ oder „Du sollst nicht Ehe bre­chen“? In unse­rer heu­ti­gen Rea­li­tät mög­li­cher­weise über­ar­bei­tungs­wür­dig. Diese Regeln sind wohl mehr indi­vi­du­ell ein­schrän­kend, als nütz­lich für das Zusammenleben.

Gebotene Individualität

Strenge Gebote halten den Men­schen davon ab, durch indi­vi­du­elle Erfah­rung selbst ein­zu­schät­zen, zu durch­den­ken, was rich­tig und was falsch ist. Warum können Kinder in unse­rer Gesell­schaft in ein Kin­der­heim gehen, wenn sie von ihren Eltern miss­han­delt werden? Warum kann man durch­aus Ehen bre­chen, wenn das Zusam­men­le­ben nicht glück­lich ist? Weil wir danach stre­ben, unser Leben indi­vi­du­ell so zu gestal­ten, wie es uns am meis­ten erfüllt. Man sollte sich eher fragen, ob in diesem Fall das Chris­ten­tum sich seine Weste nicht selbst beschmutzt, indem es Men­schen zwingt, in einer moder­nen Gesell­schaft nach Regeln zu leben, die der Gesell­schaft wider­spre­chen – zum Bei­spiel, wenn man lügt, um ein ande­res Gebot nicht zu bre­chen. Fakt ist: Eine wirk­lich Weiße Weste hat wohl keiner, nach wel­chen Regeln er auch lebt, und das ist auch gut so. Denn erst das Bege­hen von Feh­lern, die Ein­sicht und die darauf fol­gen­den Kon­se­quen­zen machen uns zu den reflek­tier­ten Indi­vi­duen, die wir jetzt sind.

Über Janine Noack (20 Artikel)
Janine studierte von 2009-2012 Geschichte, Politk und Soziologie an der HU Berlin und absolviert derzeit ihren Master in Modern European History an der Universität Cambridge.