Blau ist gut
Blau ist eine gute Farbe. Sie
strahlt etwas Majestätisches, Erhabenes
aus – wenn man sie richtig
verwendet. In der ungelenken
Hand eines Erstklässlers kann die
blaue Linie auf dem Papier etwas
Rührendes haben, in der eleganten
Hand einer Gehaltsscheckunterzeichnerin
etwas Graziles und in der
ausgeschriebenen Hand eines Greises
etwas Weises. Nach zahlreichen
Umfragen ist Blau die populärste
Lieblingsfarbe. Über 40 Prozent der
Befragten mögen Blau. Rot, Grün,
Gelb, Violett und all die anderen Farben
folgen erst mit Abstand.
Blau ist am wenigsten in seiner
Bedeutung festgelegt. Rot bedeutet
Liebe, Gefahr und Stop – wobei
die Grenzen fließend sind. Grün erinnert
uns an Natur, spendet uns
Hoff nung und lässt uns neidisch
werden. Gelb ist zwar irgendwie
warm, aber massive Flächen in Gelb
wirken eher bedrohlich als anheimelnd.
Blau dagegen ist so neutral
und ewig wie der Himmel über uns
und der Ozean um uns herum.
Segen der Neutralität
Gerade die Neutralität von Blau
reizt den Künstler, seine scheinbare
Kühle fordert geradezu heraus.
Blau lässt niemanden kalt, fordert
aber nur selten Emotionen heraus.
Blau ist die unaufdringlichste unter
den Farben, man könnte sie stundenlang
anschauen und in ihr versinken.
Blau muss man nicht lieben,
um es zu mögen. Grün, Rot, Gelb
verlangen in massiven Dosen deutlich
mehr Toleranz.
So tief wie der Ozean sinken
die Gedanken beim Sinnieren über
Blau, leichte Melancholie schleicht
sich ins Gemüt. Blues ist die passende
Untermalung für die Momente,
wenn die Gedanken lose aneinandergereiht
werden. Doppelterzen,
die passenderweise „blue notes“
heißen, sind die notwendige Würze
in Blues und Jazz. „I’m feeling blue“, wäre die passende Umschreibung
für diese leichte Entrücktheit, die
auch die Welt in der Zeit zwischen
Tag und Nacht, in der blauen Stunde,
überkommt. Alles ist da, aber
nichts ist mehr wirklich, die Realität
verliert ihre Konturen und gibt den
Gedanken Raum zum Atmen.
Schmerzhaftes Leiden
Das Blut fl ießt ruhiger durch die
Kanäle des Adersystems. Eine angenehme
Kühle ergreift die Macht
über die Existenz, die nicht mit dem
Frösteln zu verwechseln ist, das einen
überfällt, wenn man den Wasserhahn
mit dem blauen Punkt
aufdreht. Zu viel Kühle verliert das
Angenehme, das Genießen-Wollende.
Die Lippen verfärben sich bläulich,
Ohren, Hände und Füße erinnern
an Enzian und man sich selbst
nicht mehr daran, wie man Blau
jemals angenehm fi nden konnte.
Auch Veilchen können – sofern sie
nicht auf Wiesen oder in Vasen stehen
– diese Erinnerung nicht wecken,
blaue Flecke schon gar nicht.
Blaue Flecken heilen erfahrungsgemäß
nur langsam, da kann man
noch so viel Salbe aus der blauen
Tube oder Dose draufschmieren.
Dann kann man das Leid auch zelebrieren
und sich in den Schmerzen
suhlen, einfach einen Tag blau machen
oder den Schmerz ertränken
und blau sein. Überhaupt kommt
man in einer blauen Stimmung
viel eher hinter den Sinn des Lebens.
Warum beispielsweise wird
die Zunge nur von Heidelbeeren
blau, aber nicht vom Draufbeißen.
Warum ist es so schwer, in einer anständigen
Drogerie einen Liter Ersatzfl
üssigkeit zu kaufen. Warum ist
man so oft blau, aber so selten rot,
gelb oder grün?
Wahrscheinlich ist Blau einfach
das Schönste, was es gibt – damit
kann halt keine andere Farbe konkurrieren.
Lena Wenckebach, Peter Schoh